Wo auch Menschen sind, gibt es Orte

An Orten leben nicht nur Ameisen und Zauneidechsen, sondern auch Menschen. Christoph Geiser ist einsam unterwegs, verfehlt Orte, Beziehungen, huscht vorbei, reflektiert. Im Hintergrund das Thema der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Gleichgeschlechtlichkeit und nicht erfüllbaren Begierden. Sein Buch „Verfehlte Orte“ (Secession) legt fünf Erzählungen dazu vor.

 

Paul Ignaz Vogel

 

„Der Weg, der Strasse entlang, von hinter her quasi, hintenherum also, war uns jetzt zu weit“, schreibt Christoph Geiser in seiner Erzählung „Step bei Step“ (S. 157). Erst beim zweiten Versuch gelingt Geiser der Anstieg zum Schloss. Dort begegnet er in einem letzten Annäherungsversuch seinen Ahnen. Er steht endlich vor dem Schloss Lenzburg, im aargauischen Mittelland. In der Feudalzeit wurde hier über die Untertanen regiert, von den Staufern, Kyburgern, Habsburgern, „den Bernern, unseren Vorfahren“ (S. 158). Sie herrschten mit dem Richtschwert, der Guillotine und mit Folter. Die Gnädigen Herren, wie sie auch genannt waren, fanden nicht sehr oft Gnade vor Recht.

 

Schritt für Schritt ins Unheil

 

Eine Stimmung kommt in Geisers Erzählung „Step by step“ auf, wie sie Franz Kafka in seiner Prosa generiert hat. Denn im Land der ehemaligen Untertanen wird ein Prozess geführt. Der Sohn des frühzeitig verstorbenen Landvermessers (sic!) hat sich zu einer Tat bekannt, die er im nahen Rupperswil begangen und die mit der Ermordung von vier Menschen geendet hatte. Diese vorerst unverständliche Bluttat - durch einen bisher Unbescholtenen, einen typischen Biedermann aus mittelständischen Milieu des gesichtslosen schweizerischen Mittellandes (S. 162 ff.) - hat eine tiefere Ebene. 

 

Es geht um die pädophile Veranlagung des Täters. Um die homosexuelle Begierde (von Geiser Appetenz genannt) gegenüber Jugendlichen und Knaben im Schutzalter. Denn vor der Ermordung hatte der Rupperswiler Täter eines seiner Opfer, einen 13-jährigen Jugendlichen, am Tatort sexuell missbraucht. Geiser erinnert sich an ein Gespräch mit dem verstorbenen Schriftsteller Walter Vogt über Friedrich Dürrenmatt, den Vogt damals ironisch des Solipsismus („nur das eigene Ich existiert“) bezichtigte. Geiser zur möglichen psychischen Motivationslage des Vierfach-Mörders von Rupperswil: „Der Solipsist als Ödipus. Konnte Papa nicht retten, musste Mama heiraten und seine Augenweide töten. Eine Blendung.“ (S. 171).

 

Geiser wird es zu viel, untätig den Urteilsspruch über den Rupperswiler Mörder abzuwarten. Eigentlich wollte er den Täter, den Menschen - ja den Mann von Angesicht zu Angesicht sehen. Geiser steigt vom Schloss Lenzburg ins Hotel ab, findet eine Abkürzung im steilen Gelände, eine Treppe. Am nächsten Tag reist er nach Hause. Und dort erfährt er den Urteilsspruch für den Rupperswiler Täter: Lebenslängliche Haft, aber nicht ein Leben lang. Doch auch die Last der privilegierten Ahnen bedrückt den Autor von „Step by step“. Er blickt auf das in seiner Wohnung aufgehängte Porträt von Georg Thormann („finsterer Mann mit Mühlsteinkrause am Hals“, S. 176) aus dem Jahre 1645. 

 

Damit ertaste ich eine mögliche Antwort auf die Frage, weshalb Geiser die seltene Schreibweise des Pluralis majestatis in seiner Prosa verwendet: Ist es der Fluch von geahnten Gespenstern, der sich nicht aus dem wirklichen Leben von Menschen und ihrer Gesellschaftsnormen verscheuchen lässt? Denn laut Wikipedia wird der Pluralis Majestatis (lateinisch = Plural der Hoheit) benutzt, um eine Person, meist einen Herrscher, als besonders mächtig oder würdig auszuzeichnen.

 

In einem Briefwechsel schreibt mir Geiser: „Für mein Wir gibt es kein Kollektiv mehr – darum ist es absurd. Es kommt ja nicht einmal mehr ins Schloss seiner Ahnen, dieser Gnädigen Herren von Bern… nur grad noch bis zum verschlossenen Tor.“  

 

Vom Mainstream abgewiesen

 

Eigentlich war es Geisers Absicht, am Prozess gegen den Rupperswiler Vierfachmörder als Beobachter teil zu nehmen. Geiser wird nicht zugelassen, er versucht dennoch, ohne gültige Papiere, frühmorgens mit einem Taxi die Fahrt bis zum Gericht im Gebäude der Mobilen Polizei des Kantons Aargau. Doch er passt  nicht ins Anforderungsprofil für die Zulassung, seine Suche nach der Wahrheit genügte den Kontrollinstanzen nicht, die – vollkommen unverständlich und fernab - über ihn willkürlich befanden. Wer da nicht an Franz Kafka denkt.

 

Geiser lebt nicht im Mainstream. Das Gefühl des Ausgeschlossenseins erfasst ihn bei der Umkehr ins Hotel am Fusse des Schlosses Lenzburg. Am veralteten Hotelcomputer recherchierte Geiser danach über den Mordfall und über das, was die Sensationspresse als spärlichen Wahrheitsgehalt in der Öffentlichkeit zurücklässt. 

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Ein Schwenker von der letzten zur ersten Geiser-Geschichte im Bändchen „Verfehlte Orte“ drängt sich auf. Der Bericht trägt den Titel „Die Vergrämung der Zauneidechsen“. Darin behandelt Geiser den grossen Schritt vorwärts, den historisch-marxistischen Quantensprung, die Ausflucht in eine neue Zeit, mit einer sogenannt neuen Gesellschaft und ihren (ebenfalls neuen) Normen: Es geht um den etablierten Revolutionär Lenin und um den Ostberliner DDR-Korrespondenten Jean Villain (Pseudonym für Marcel Brun) der kommunistischen Schweizer PdA-Zeitung „Vorwärts“.  

 

Archäologie für die Utopie

 

In seiner Prosa schreibt Geiser über jene neuen Eliten in der DDR - ebenfalls im Pluralis majestatis. Ein sprachliches Stilmittel des Ancien régime belebt somit die Utopie des Staatssozialismus in der DDR. Fürwahr, an Spannungen fehlt es da nicht. Eliten zu Eliten.

 

Nach der Wende 1989 und nach der Auflösung der DDR wurde das Lenindenkmal am Leninplatz in Ostberlin abgebaut, in 111 Teile zerlegt und die Reste unter einem märkischen Hügel verstaut. Es kam zu gesellschaftlichen Gegenbewegungen in der vorerst radikal antikommunistischen Wende, und auch zum Beschluss, den Kopf Lenins, Trümmerteil Nr. 16 - aus ukrainischem Granit übrigens, wer hätte sowas je gedacht! - wieder auszubuddeln und für die Nachwelt als historisches Gut zu konservieren. Bei dieser archäologisch anmutenden Arbeit droht eine Vergrämung der im märkischen Sand angesiedelten Zauneidechsen. Fachleute evakuieren die streng geschützte Tierwelt-Population, die aus der Frühzeit der biologischen Entwicklung stammt. Aus einem Entwicklungsstadium, dem später übrigens das Mythentier des böswilligen Drachen zugeschrieben wurde. Wie rasch doch zeitgeschichtliche Gegenwart in der archäologisch geprägten Historie verschwinden kann. Lenins Kopf wird als wieder gewonnener Kunstgegenstand aufbewahrt. Es war einmal …

 

Dann ein Bild aus den Kindheitsträumen: Eine Schnur ohne Drachen, der allein in den Himmel gestiegen – und unwiderruflich verschwunden ist . Das ist das Bild der Enttäuschung der DDR-Schriftstellerin Sarah Kirsch über eine Utopie – die sozialistische - , die verloren ging. Geiser weist in seinem Text „Die Vergrämung der Zauneidechsen“ darauf hin: “Ins diesige Blau des Himmels liessen wir jetzt, in Gedanken, Sarah Kirschs Drachen steigen: und hielten nur noch den Zipfel der Schnur in den Fingern – den Rest des Fadens -, denn der Stern aus Papier wäre uns entflogen.“ (S. 24.). 

 

Auch bei Geiser wird die Enttäuschung über das Scheitern der Utopie des Sozialismus deutlich, auch die persönliche Schwäche findet Erwähnung. Er gesteht, dass er über die Schweinezucht von Rumäniens Diktator Ceausescu oder über die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in der DDR geschrieben hat, was ihm im Nachhinein peinlich ist. „Schönrednerei, Fiktion, parteiisch. Was verstehen wir schon von Schweinezucht? Inzwischen sind wir Aktionär!“ (S. 32). 


Hingabe an anonyme Instanzen

Geiser erinnert sich sehr genau an einen Besuch beim Vorwärts-DDR-Hauptstadtkorrespondenten Jean Villain. Am Flughafen Ostberlin betritt Geiser die VIP-Lane, er darf an all jenen vorbei gehen, welche in der Schlange stehen und auf  die mühsame Zollabfertigung warten. Am Ende des privilegierten Korridors empfängt ihn Jean Villain, ein Vertreter der neuen Mächtigen zu Berlin-Ost (S. 19), Journalist und Schriftsteller zudem. Eine „Very Important Person, VIP“ eben. Neue Macht, neue Elite. Da lese ich in Geisers Text über die Vergrämung der Zauneidechsen: „Imponiergehabe, Demutsgesten, sogenanntes Treteln, dieses ganz stark ritualisierte Sozialverhalten der Zauneidechsen.“ (S. 13). Es stimmt. 

 

Jean Villain, mit offiziellem Namen Marcel Bruno Brun, 2006 gestorben, entstammte einer grossbürgerlichen Psychiater-Familie vom begüterten Zürichberg in der Schweiz. Er war im Konflikt aus seinem Herkunftsmilieu ausgeschieden. Auch dort grosse zwischenmenschliche Kälte, ein verdeckt ödipales Drama hatte sich abgespielt, ein emotionales Verstossensein durch den Vater: „Nur so viel wusste ich jetzt vom Brun – in der Küche am Leninplatz 1 beim Belegen der Pizzen im fünfundzwanzigsten Stockwerk – ein feiger Vater, der seinen Sohn der zweiten  Frau geopfert hatte; und – der Pelzmantelpsychiater meiner Sippschaft.“ (S. 26).

 

In Ergänzung zu Geisers Text „Die Vergrämung der Zauneidechsen“ sei nicht verschwiegen, dass Villain, ein Schweizerbürger, sich von der Staatssicherheit als Zuträger (Informeller Mitarbeiter IM) hatte anheuern lassen (Wikipedia: Villain war inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit. Deckname „IM Erwin“.https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Villain). Eine undurchschaubare Behörde herrschte über sein Leben. Auch da wird Franz Kafkas Vision der Annäherung, der versuchten Hingabe an anonyme, unerreichbare Instanzen, die mehr, alles wissen sollen, erkennbar. 

Geiser springt im Text „Die Vergrämung der Zauneidechsen“ plötzlich vom Pluralis majestatis in die Ichform, wird identisch mit sich selbst. Zum Film Bernard Wickis „Die Brücke“ schreibt er: „Mein Korrespondent, Hans, der böse Wicht, dieser abtrünnige Sohn der Schweizer Psychoanalyse, der schlimme!, wollte einen Film sehen … Ich bin kein Kinogänger … ein Problem zur starken Empathie im Grunde …eine Überidentifikation aus Ich-Schwäche. “ (S. 28).

 

Wo bin ich, wer bin ich?

 

In der Erzählung „Der Neandertaler von Darmstadt“ berichtet Geiser weiterhin im Pluralis majestatis, hüpft aber dann auch wieder in die Ich-Form, was jene Passage besonders interessant macht. Sie gewinnt in ihrer Aussage an Gewicht: „Wo bin ich?“ Diese Frage stellt Geiser zweimal. (S. 40 ff). Wo ist die Orangerie mit dem Staatsempfang? „Frage ich“, „meine ich“. Und dann wiederum im distanzierenden Pluralis majestatis: „Auch wir wären geladen, zu den Fruchtbringenden gehörig auch wir. Wir?!“ Mit den Fruchtbringenden sind die Mitglieder der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ gemeint (Honoratioren?Akademiker?Heteros?), die sich ans Buffet des Staatsempfanges drängen. „Was soll ich hier? Loslaufen zunächst, in die Nacht, notgedrungen richtungslos, aber nicht ziellos.“ 

 

Geisers menschliche Existenz wird von einem beständigen Gefühl des Nicht-Dazugehörens begleitet: „Menschenseelenallein, Gottverlassen“. Er findet Zugang zu den schönen Dingen, den gesammelten Naturobjekten, den biologischen Pretiosen im Museum, in einer Dingversammlung, wie er sie nennt. Der Neandertaler wird zum Gegenüber, zum Mann aus der Urzeit, den er lieben könnte – in Wahrheit eine Hominiden-Rekonstruktion aus Kunststoff. „Gehen, so lesen wir, bedeutet, den Ort zu verfehlen.“ (S. 43). Evolutionsgeschichte noch und noch, alles bewegte sich und bewegt sich immer noch. Es bleiben die Dinge vor Ort, und wenn für einen Menschen das Personenrecht ins Sachrecht übergeht, ist er bekanntlich tot. Es bleiben Gespenster, die umgehen in der Nacht zu Darmstadt. „In dieser Nacht von Halloween“. (S. 54).

 

Hereingewehtes Glück

 

Ein Windhauch, ein assoziativer Text über den Realismus des preussischen Bürgertums im 19. Jahrhundert, über den Maler Menzel. „Carlchen oder: Das Balkonzimmer“. 1845 gemalt als Wohnraum des Malers, ein Vorhang, der von einem sanften Windstoss ins Zimmer geweht wird, zwei Stühle, Menzels Balkonzimmer. Ein Augenblick des Glücks für den Kleinwüchsigen, der stets im Verbund seiner Herkunftsfamilie lebte, für die Liebe zu klein, „ein grimmig blickender Zwerg; der als tanzender Maler, Pinsel im Maul, zig Zeichenstifte zwischen den Krallen, abhebt … und das Disputieren den Stühlen überlässt.“ (S. 68).

 

Auf der Rückseite des Buchdeckels von „Verfehlte Orte“ steht der Satz. „Venedig, jedermann weiss es, denn jedermann war schon mal dort, nur wir nicht, ist ungesund.“ Diese frappierende Behauptung steht am Anfang der Erzählung „Die falschen Toten von San Michele“. Geiser entrinnt dem gleichzeitig stattfindenden regionalen Fest des „Zibelemärits“ in Bern, quartiert sich zuerst in Brig an der Grenze zu Italien ein, fährt dann nach Venedig. Wenn schon jedermann dort gewesen sein soll, muss es Geiser auch noch selbst schaffen - im Zuge der versuchten Anpassung an den Mainstream - nach Venedig zu gelangen. 

 

Er entdeckt eine Pietà, „hoch erotisch … jenseits des Geschlechterdiskurses. Ausserhalb des Geschlechterkampfes, ausserhalb des ödipalen Dreiecks auch: keine Mama, kein heiliger Geist, nein, keine Taube, nirgends, und kein himmlischer Vater. Spatzen oder Schmetterlinge und ein Jüngling. Keine Mutter Kirche! Und kein Vater Staat.“ (S. 107). Geiser gleitet in die Knabenwelt des Biedermeier-Malers Menzel hinüber, erinnert sich an dessen Aktmodelle, an den pädagogischen Eros gegenüber seinem Schüler, dem „Carlchen“ (S. 108).

 

Ortskunde

 

Am Ende seiner Erzählung „Die falschen Toten von San Michele“ geht Geiser orientierungslos über einen Friedhof. Da er pinkeln sollte und die Totenruhe nicht stören möchte, sucht er verzweifelt den Ausgang. Nirgends steht EXIT. Er trifft auf eine alte Frau. Keine Dame ist sie, doch sie kann das Verbindliche im letzten Satz der Erzählung mitteilen: „Dort, wies sie uns mit dem Zeigefinger, dort gleich um die Ecke geht’s hinaus, mit einem Lächeln.“ Eine Ortskundige hat geholfen. Auf dieser Seite fehlt die Nummernzahl, es wäre die 119 gewesen.   

 

So finde ich auch auf einer offenen, nicht bezeichneten Seite der Publikation den korrekten Weg aus der intensiven Lektüre des Büchleins „Verfehlte Orte“. Es sind von der Secession Texte ediert worden, die sich zum Teil ergänzen, sich fortsetzen, thematisch überlagern. Eine tiefe Einsamkeit wird in diesem Labyrinth von Gefühlen, von Suchen und Versuchungen, von erlerntem bildungsbürgerlichem Detailwissen und digitaler Recherche, von ehrlichen Bekenntnissen und verzweifelter Selbstironie spürbar. 

 

Ich erkenne einmal mehr, dass Geiser schreiben kann, ein hochbegabter Künstler ist.  

 

 

Hinweis auf einen Hörbeitrag:

https://www.srf.ch/play/radio/52-beste-buecher/audio/verfehlte-orte-von-christoph-geiser?id=f11f3881-1e6a-4edf-8835-883b742cc891

 

 

Christoph Geiser

Verfehlte Orte

Erzählungen

SECESSION, Verlag für Literatur

Zürich / Berlin

ISBN 978-3-906910-51-2

 

 

(PIV, 21.05.2019)