Naziverbrechen und Trend zur Geschichtslosigkeit

Die Geschichte einer Desinformations-Kampagne im Kalten Krieg: Peter Rippmann schrieb 1965 in meiner Zeitschrift neutralität über die rassistische Flüchtlingspolitik der Schweiz während dem Zweiten Weltkrieg. Max Frisch stellte in seiner Antwort die Frage, warum Probleme unseres Landes (1939-1945) kein Thema für schweizerische Literatur würden. Die „Weltwoche“ blendete die Naziverstrickung der Schweiz aus und führte den Diskurs einseitig weiter. 

Paul Ignaz Vogel

 

Tobias Amslinger, Leiter des Max Frisch-Archivs an der ETH Zürich, beginnt seinen zeitgeschichtlichen analytischen Text im neu erschienenen Büchlein „Die Schweiz bewältigen. Eine literarische Debatte nach Max Frisch“ (essais agitées, Band 4) mit der Rolle von Walter Mathias Diggelmann, einem sozialkritischen Schweizer Schriftsteller mit schwerer Jugendzeit, einem unzimperlichen Wahrheitssucher. Mit seinem 1965 erschienenen Buch „Hinterlassenschaft“ hatte er in seinen Erzähltext historische Quellen aus der Nazizeit eingeflochten und machte deshalb sowohl bei schreibenden KollegInnen als auch in der Öffentlichkeit Furore. Amslinger: „Er brachte das Thema der Schweizer Verstrickung in die Geschichte des Nationalsozialismus pointiert und lautstark auf die Tagesordnung.“ (Die Schweiz bewältigen. Eine literarische Debatte nach Max Frisch, S.15). 

 

Rolle der Schweiz in der Judenverfolgung

 

In seinem Artikel „Eine Debatte in ihrer Zeit“ erinnert Amslinger an den Diskurs, der in unserer Zeitschrift neutralität Mitte der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts begonnen hatte.

 

Der „Schweizerische Beobachter“, eine Familienzeitschrift in der Deutschschweiz, berichtete 1954, wonach der eidgenössische Fremdenpolizei-Chefbeamte Heinrich Rothmund verantwortlich gewesen sein soll für das diskriminierende „J“ (= Jude) in den reichsdeutschen Pässen, um eine Visumspflicht für alle zu umgehen. Es bestand auf jeden Fall eine völkerrechtliche Vereinbarung zwischen dem Deutschen Reich und der Schweizerischen Eidgenossenschaft in dieser Angelegenheit, die gegen die jüdischen Flüchtlinge gerichtet war. 

 

Peter Rippmann, Redaktor beim „Schweizerischen Beobachter“, publizierte in der April/Mai-Ausgabe 1965 der Zeitschrift neutralität (ebenda, S. 26) einen Artikel über die schweizerische Flüchtlingspolitik zur Zeit der Nazis unter dem Titel „Unbewältigte schweizerische Vergangenheit?“  

 

Die Fragestellung Rippmanns zur unbewältigten Nazi-Vergangenheit in der  Zeitschrift neutralität beschäftigte auch Max Frisch. Er nahm den Diskurs auf und schrieb für die Septemberausgabe 1965 der neutralität eine weiter führende Antwort, die ebenfalls unter dem Titel „Unbewältigte schweizerische Vergangenheit?“ erschien. In seinem Text geht Frisch eingangs ausdrücklich auf die Thesen von Rippmann ein, wonach die Schweiz eine Mitschuld am Anbringen des „J“-Stempels in den reichsdeutschen Pässen hatte. Im zweiten Teil des Textes fragt er die Schweizer Schriftsteller, ob ihnen ihr Land Thema geworden sei. Amslinger hält in seinem erwähnten Aufsatz (ebenda, S. 16) fest: „.Wie Charlotte Schallié bemerkt, hat Frisch damit nicht weniger als „einen neuen literarischen Gedächtnisdiskurs“ begründet: Schweizer Schriftsteller sollten ein eigenes Verhältnis zur Geschichte ihres Landes entwickeln.“   

 

Die grosse Verdrängung

 

Was mit einem Diskurs in der Zeitschrift neutralität über die Verstrickungen der Schweiz in die Nazipolitik von Reichsdeutschland und die ethischen Verfehlungen begonnen hatte, wurde thematisch rasch ausgeblendet, verdrängt und reduziert auf ganz andere Themen. Lapidar und korrekt beschreibt Amslinger den zeitgeschichtlich  interessanten Prozess auf Seite 20 seines Aufsatzes so: „Frischs Text wurde wahrgenommen und am 11. März 1966  in der Zeitung „Die Weltwoche“  zusammen mit einer Antwort des Schriftstellers Otto F. Walter erneut abgedruckt.“ Nun fehlte bereits der Grundtext für den Diskurs, nämlich der Beitrag von Peter Rippmann über den „J“-Stempel. Dieser Sachverhalt der eidgenössischen Kollaboration mit Nazideutschland wurde fortan indirekt - und somit sekundär – nur durch Frischs Text wahrgenommen.  

 

Die Operation Walter – nennen wir sie einmal so – zeigte in der „Weltwoche“ nur mässigen direkten, aber umso mehr indirekten Erfolg. Zuerst einmal diente sie Otto F. Walter zur Selbstinszenierung: Sein Dorf, nicht sein Land, nicht DIE Schweiz wurde zur Welt erklärt, in der Schriftstellerei gedeihen konnte. „Ich stamme aus dem Kanton Solothurn, aus dem Bezirk Thal, aus der sehr kleinen Gemeinde Rickenbach, ich wohne im Umkreis von Olten und Aarau. Da liegt mein Erfahrungsbereich, da und in den grossen Städten, die ich mag.“ (Ebenda, S, 52). Walter mag die grosse Spannung während des Schreibens, nach dem Motto: Ich erfinde die Welt: „Wenn der Ausgang schon zu Beginn feststeht, wenn die Antwort schon da ist, noch während schreibend ich sie verfolge, wenn die Fremdenpolizei als Täter – beispielsweise – schon vorgegeben ist, noch bevor ich aufgebrochen bin, den Täter schreibend zu stellen, wenn das bittere, verrückte und süsse Leben für mich schon überblickbar ist, noch bevor ich versuchte, es aus Worten zu sich selbst zu erwecken, ist die Schreiberei für mich langweilig.“ (S. 53 ff.). Der „J“-Stempel ist somit ein langweiliges Thema, nicht Walters Literatur würdig. 

 

Jean Rudolf von Salis gehörte zur Generation, welche im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz die Nazibarbarei in Deutschland wahrgenommen hatte. Er erlässt sachgemäss einen Ruf nach mehr geschichtlichen Erkenntnissen und wendet sich an Edgar Bonjour, Ordinarius für Schweizer Geschichte an der Universität Basel. Dieser schrieb damals im Auftrag des Bundesrates an der Schweizer Geschichte jüngsten Datums. Von Salis meint, dass Walters Artikel uns eigentlich von Max Frischs Anliegen weggelockt hat, und „er hat uns gezwungen, seinen Umwegen zu folgen …“ (S. 69, ebenda). 

 

Eine analoge Haltung wie bei Otto F. Walter finden wir auch bei Peter Bichsels Nichtbetroffenheit, bei den kleinen Dingen. In seinem Beitrag in der „Weltwoche“ zum Diskurs erwähnt er die schriftstellerische Aufgabe, darzustellen, Fakten, Umwelt zu sammeln und zu ordnen. Bichsel: „Zu meiner Umwelt kann Geschichte gehören, die Geschichte der letzten dreissig Jahre zum Beispiel. Es ist kein qualitatives Prinzip, das weiss ich zum voraus, Bleistift kann wichtiger sein als Rothmund, Bierflasche wichtiger als Fahrverbotstafel.“ Und dann negativ formuliert: „Das Prinzip, nach dem ich auswähle und ordne, bestimme ich entweder nicht oder dann selbst.“ (S. 83, ebenda). 

 

Keine Ermittlung erwünscht

 

Adolf Muschg trägt auch zur Diskussion bei. Er erlebt den Diskurs als wissenschaftlicher Assistent im bundesdeutschen Göttingen und ist der Debatte über die NS-Schuld rein geographisch näher, kennt daher die szenische Inszenierung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses. Er lehnt „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, ein Oratorium in elf Gesängen ab mit den Worten: „Ich fürchte mich vor Peter Weiss, denn dieses Oratorium ist auf den Teufel getauft, den es beschwören will.“ (S. 86, ebenda) „Die Ermittlung“ wurde am 19. Oktober 1965 im Rahmen einer Ring-Uraufführung an fünfzehn west- und ostdeutschen Theatern sowie von der Royal Shakespeare Company, London, uraufgeführt, wie Wikipedia berichtet.

 

Muschg hätte sich in der Bewältigung der NS-Vergangenheit mehr Allgemeines, unverbindlich Generelles und Analytisches gewünscht, wie Hannah Ahrendt es mit der Banalität des Bösen benannte: „Einem Kollektiv – etwa der Schweiz 1939-1945 – nachträglich die Gewissensfrage stellen, ist moralische Effekthascherei, denn dem Kollektiv fehlt durchaus das Organ, das sich verbindlich zerknirschen könnte.“ (S. 92 ebenda) . Amslinger schreibt dazu: „‘Bewältigen‘ meint für Muschg kein ideologisches ‚Grossreinemachen‘. Er plädiert für die Halbheiten, auch im Schreiben.“ (Ebenda, S.26).


Walter Matthias Diggelmann schliesst  die Debatte mit ein paar für ihn typisch lässigen, schlacksigen, auch zynischen Bemerkungen an seine Schriftstellerkollegen ab. Diggelmann steht als Angeschuldigter da: „Der Mit-Auslöser der Diskussion stand in einer interessanten Volte plötzlich als Angegriffener da, der sich verteidigen musste.“, schreibt Amslinger in seinem einführenden Essay (S. 27 ebenda). 

 

Internetgesellschaft braucht Öffentlichkeit

 

Die Schriftstellerin Ruth Schweikert  aus der Schweiz meldet sich auch im Bändchen „Die Schweiz bewältigen. Eine literarische Debatte nach Max Frisch“ zu Wort. Sie wurde im gleichen Jahr, als die Zeitschrift neutralität ihren Nazi-Vergangenheits-Diskurs begann - nämlich im Jahre 1965 - im südbadischen Lörrach an der Grenze zum schweizerischen Riehen geboren. Siehe auch https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-19/.

Schweikert wendet sich in einem Offenen Brief an Max Frisch, der in der Schweiz etwas Werdendes sah, „deine Schweiz als Heimat? - diesen (verluderten) Staat, der dich als Citoyen und Schriftsteller ein Leben lang umtrieb.“ (S. 105 ff., ebenda). Und sie sieht ihre Aufgabe nicht darin, die schweizerische Vergangenheit zu bewältigen, sondern die Gegenwart zu vermessen. 

 

Was also trifft Schweikert heute an, das ihr beachtenswert erscheint? Sie knüpft an ihr Erlebnis in einem Schreibatelier für 15-18-Jährige in einer Kantonsschule für Wirtschaft in Zürich an. Skizziert dann den unerhörten Schub zu einer Globalgesellschaft nach Ende des Kalten Krieges („Der Fall des Eisernen Vorhanges, das Ende des Kalten Krieg“, S. 109, ebenda). Die existenzielle Gleichheit aller Menschen im Verbund mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte schien angesagt. Schweikert erwähnt den Unterschied zwischen den globalen „Anywheres“ und den „Somewheres“ (mit ihrem eigenen Land) und stellt die zentrale Frage: Wo stehen wir? Schweikert gibt zu bedenken: „Klar scheint einzig, dass es dieses selbstverständliche „Wir Schweizer*innen“ oder gar „wir Schweizer Schriftsteller*innen“ schon länger nicht mehr gibt: Gleicher sind wir Menschen offnsichtlich nicht geworden in dieser globalisierten Welt, im Gegenteil, wir leben in Zeiten fortschreitender Ausdifferenzierung.“ (S. 112, ebenda). Es gelte nun, möglichst differenziert zu schreiben und zu sprechen, „nicht um eins zu werden, aber doch ein immerfort werdendes „Wir“, ein „Wir“ als Raum  jenes unaufhörlichen Gesprächs, das eine politische Öffentlichkeit erst herstellt, die wir notwendig brauchen, sowohl regional als auch national und europaweit … in den unaufhörlich werdenden Räumen des Internets.“ (S. 114, ebenda).

 

Der Welt entrückt

 

Die junge Autorin Julia Weber (geboren 1983) schreibt in ihrem berührenden Beitrag „Irma Klein“ von einer Schriftstellerin, die auf der Suche nach einer guten und ganz generellen  Politik enttäuscht wird. „Dann habe die Schriftstellerin das Flugobjekt gebaut, es sei eines gewesen, das sie zusammen mit ihrem Vater erfunden habe, der sie immer liebevoll ins Bett gebracht und im Bett noch für sie gesungen habe.“ (S. 132, ebenda). Und sie fliegt damit weg. 

 

Die Pein der Erwachsenenwelt hatte für sie begonnen, als sie die Nutzlosigkeit ihres Tuns begriff. Der Mensch bleibt immer der Gleiche, die Welt wird immer dumpfer, je mehr dagegen angeschrieben wird. „Und die Kunst sei im Vergleich zur Politik ein stark verdünnter Sirup. Die Politik aber könne richtig dickflüssig sein. Sie würde die Welt bearbeiten wollen“. (S. 124, ebenda). Bis alle verstanden hätten, sich besserten, die Steuern zahlten, die Regierungen die einstigen Militärausgaben für Umweltschutz nutzten, für den Umbau der Fabriken, für die Sozialkasse. 

 

Zur Schuldfrage äussert sich Weber ebenfalls nur generell: „All die alte, die uralte Schuld der Menschen, dieses Landes und aller Länder, die würde abgearbeitet in der Politik.“ (S. 124, ebenda).Und lässt den Freund der Schriftstellerin reden: „Sie habe ihm auf einer Serviette aufgezeichnet, warum es unmöglich sei, Kunst und Politik in einem Leben zu vereinen.“ (S. 125, ebenda). Kunst müsse das Volk wach halten, und dafür sorgen, dass es nicht in die Irre geführt wird.

 

Bevor die Schriftstellerin abhebt, sich entrückt, meint sie (Zitat): „Und nun sei das Land krank, sei befallen von Lügen und dem Glauben an diese, sei befallen von der Angst , so flächendeckend, dass die Kunst nicht mehr heilen könne, darum müsse sie wohl die Kunst aufgeben, so auch ihr eigenes Glück.“ (S. 126, ebenda).

 

Historische Nachbemerkungen

 

Als Bewertung zu den Texten der beiden Frauen aus der ersten und der zweiten Generation nach dem Männer-Schriftsteller-Kollegium, das um 1965 über die Schweiz stritt und dabei den Diskurs um die Verstrickung unseres Landes  in die rassistische Nazipolitik umging: Es liegen Welten zwischen den Erfahrungen, den Horizonten und gesellschaftlichen Realitäten von anno dazumal und heute. Kommt hinzu, dass die beiden Autorinnen aus der gezielten Desinformationspolitik im deutschschweizerischen Kulturbereich anno 1966 wohl nicht klug geworden sind. Dies vollkommen zu Recht, wie ich finde. Verwedelung, Unklarheit war schon damals angesagt.  

 

Es stellt sich daher die Frage: Wie konnte es geschehen, dass ein Diskurs so verkommt? Die Weichen wurden mit der Übernahme des Frischtextes „Unbewältigte schweizerische Vergangenheit?“ in der „Weltwoche“ gestellt. Dort wartete bereits Otto F. Walter als Erstantwortender. Die eidgenössische Verstrickung in die NS-Rassenpolitik wurde – wenn schon – plötzlich nur noch am Rande erwähnt.  War das Zufall, oder führte da jemand im Hintergrund Regie? Es lohnt sich, das Netz der damaligen Players näher anzuschauen.

 

Vorab aber ein Hinweis. Im März 1967 trat Dr. Urs Widmer in die Redaktion der neutralität ein, nachdem er seine Tätigkeit als Lektor bei der Walter Verlag AG beendet hatte. Widmer blieb ein halbes Jahr bei der neutralität, siedelte dann nach Frankfurt a.M. über und begann seine Schriftstellerei. Zur Erinnerung: Im Herbst 1965 hatte er seine Stelle beim Walter Verlag in Olten angetreten und somit seine Zusammenarbeit mit Otto F. Walter begonnen.

 

Der tiefe Staat

 

Otto F. Walter hatte schon früh ein Auge auf den Studenten Urs Widmer geworfen. „Ich hatte auch und vornehmlich so viel Dampf gemacht, mein Studium abzuschliessen, weil Otto F. mir schon Monate früher angeboten hatte, seine rechte Hand zu werden. (Er kannte meinen Vater, und wir hatten – Klaus Nonnenmann allen voran – gemeinsame Freunde.)“, schreibt Urs Widmer in seinem letzten Buch „Reise an den Rand des Universums“ (S. 326). Urs Widmers Vater, Walter Widmer, Gymnasiallehrer in Basel, Übersetzer und Literaturvermittler war Kommunist und in der Partei der Arbeit PdA eingeschrieben. Ein intellektueller Aktivist.

 

Urs Widmer und Otto F. Walter verstanden sich offensichtlich gut. Edgar Bonjour, Universitätsprofessor in Basel für Schweizer Geschichte, „arbeitete an seinem Bericht über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (dem sogenannten „Bonjour-Bericht“), und ich war Lektor im Walter-Verlag in Olten geworden und hatte Otto F. Walter eingeredet, wir hätten eine Chance, das Buch im Walter-Verlag zu machen, ein Prunkstück des Programms, wenn ich zu Bonjour führe und ihn von meinem Plan überzeugte.“ (Urs Widmer, Reise an den Rand des Universums, S. 238). Widmer traf dann Bonjour in seinem Kämmerlein, offenbar in Schweizerischen Bundesarchiv. Es kam zu keinem Deal.

 

Womit wir bei Edgar Bonjour und seinem „staatsnahen Werk“ (so Widmer) wären. Bonjour hatte das ausgeklügelte persönliche Machtsystem eines Emporkömmlings aufgebaut. Als Sohn eines Regionalfürsten der eidgenössischen Post in Neuenburg konnte er sich mit einer Enkelin des berühmten Berner Chirurgen Kocher vermählen und gehörte nun, obschon Zugezogener, zum Berner Patriziat, den Bernburgern. In Basel galt er, der bereits privilegierte Universitätsprofessor, als Abgesandter der fernen nationalen Machtzentrale. Er fädelte auch Laufbahnen in diplomatischen Diensten der Eidgenossenschaft ein. Eine intellektuelle Landsknecht-Figur, die sehr gut in den Söldnerstaat Schweiz passte, mit Macht, Abhängigkeit und Verrat.  

 

Auch ich studierte anfangs bei Edgar Bonjour an der Universität Basel, ich war bei ihm in den Vorlesungen eingeschrieben. Als der Soziologe Heinrich Popitz auftauchte und seine Vorlesungen begann, orientierte ich mich um. Am 26. Mai 1964 rapportiert der Spezialdienst des Polizeidepartementes Basel-Stadt an die Bundespolizei über Spitzelberichte von Professor Edgar Bonjour zu meiner Person. Bonjour wird unter anderem wie folgt zitiert: „Er habe gesehen, wie Vogel sich als Linksintellektueller entwickelt habe. Alles, was er tue, sei im Grunde genommen extrem. Er, Bonjour, sei ihm zu gouvernamental und es sei auch typisch, dass er seine Vorlesungen nicht mehr besuche. Ja, diesem Professor Popitz mit seiner deutschen Soziologie sei er nachher nachgelaufen.“ Das sind totalitäre Machenschaften, wenn ein Universitätsprofessor seinen Studenten beim Geheimdienst denunziert. Abscheulich und unredlich.

 

Dieses amtliche Mobbing betraf damals zu Basel in der Mitte der Sechzigerjahre vorigen Jahrhunderts zwei Personen, Heinrich Popitz und mich. Zu Popitz ist zu sagen: Er war der Sohn von Johannes Popitz, der als Person des deutschen Widerstandes im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat des 20. Juli 1944 sein Leben lassen musste. Am 2. Februar 1945 wurde er in Berlin-Plötzensee gehenkt.

 

Auch für Bonjour waren solche Attentäter und ihre Verbündeten aus Gewissensgründen Frevler, wenn sie Tyrannenmord versuchten oder begingen. Ich erinnere mich noch gut an beiläufige Bemerkungen von Bonjour in seinen Vorlesungsstunden.

 

Popitz war der Situation am Intrigenstadel der Basler Universität überdrüssig und folgte 1964 einem Ruf der Universität Freiburg im Breisgau in der Bundesrepublik, wo er in Ruhe weiter forschen und  lehren konnte. Ich blieb im Netz der schweizerisch-amtlichen Exklusion hängen. Erst 1995 öffnete sich das Geheimnis mit dem Erhalt meiner letzten Staatsschutzakten. Obwohl 1974 mit dem Ende der Zeitschrift neutralität meine Observierung durch den Staatsschutz eingestellt worden war (dies aber bis 1995 nie mitgeteilt wurde), galt ich in der angewöhnten Gesellschaft weiterhin als verfemt. Die Weichen in meinem Leben waren schon vor 1974 von fremder und mir feindlicher Hand gestellt worden, und sie wurden automatisch und fortlaufend, dem gesellschaftlichen Usus folgend so gestellt. Konnte ich meinen Wahrnehmungen und meinem Verdacht trauen? In dieser nagenden Ungewissheit musste ich von 1963 (Start der Zeitschrift neutralität) bis 1995 in krank machender Situation leben.

 

Urs Widmer indessen liebte seinen Universitätsdozenten Edgar Bonjour bis kurz vor seinem Lebensende anno 2014, weil er ihm wahrscheinlich erwünschter Vaterersatz (der echte Vater war Kommunist) geworden war. Seine Bekenntnisse zu Bonjour sind unkritisch, überschwänglich, bedingungslos ergeben: „Edgar Bonjour. Ein riesengrosser Kopf, der etwas von einem Totenschädel hatte. Der auch dem Oberpriester eines uralten Kults hätte gehören können. Edgar Bonjour, für Neuere Geschichte zuständig, war nicht nur tief wissend, sondern auch so wunderbar offen eitel, dass ich ihn gerade dafür besonders liebte (Urs Widmer, Reise an den Rand des Universums, S. 234).“ Ja, das tiefe Wissen aus dem tiefen Staat!

 

Alles klar, liebe Leserin, lieber Leser? 

 

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Die Schoa in Diggelmanns „Hinterlassenschaft“

 

„Im Januar 1942 in Smolensk, Lazarett Nord, erklärte mir der Chefarzt (Hauptmann Wagner), dass es von Jahr zu Jahr schlechter und bedenklicher zugehe, indem immer mehr Juden auf die bestialischste Art umgebracht würden, und zwar weniger durch Massenerschiessung (wie im Getto von Minsk 7000 Juden durch Maschinengewehrfeuer), sondern durch Vergasung in Gaskammern und Verbrennung der Leichenmassen in riesigen Krematorien. Er wusste auf alle Fälle, dass der Bau derartiger Vernichtungslager, wenn nicht schon an verschiedenen Orten vollendet, so doch bereits in Auschwitz erprobt war. In Smolensk sah ich am Rande der Stadt zirka 10 jüdische Frauen ihr eigenes Grab schaufeln. Der Exekution wohnte ich nicht bei, sah aber anderntags die zugedeckte Gruft. In Warschau sah ich, durch einige SS-Leute bewacht, einen Deportiertenzug von Warschauer Juden, angefangen von Greisen bis zum Kleinkind, vollgepfropft in Drittklasswagen. Ein SS-Mann erklärte mir, dass diese ‚Judenschweine‘ selbstverständlich keine Ahnung hätten, dass sie in zweimal 48 Stunden verscharrt seien.“

 

Dr. med. Rudolf B. aus Zürich, Teilnehmer an der ersten schweizerischen Ärztemission nach dem Osten in seinem Bericht zu Handen des Berichts von Professor Ludwig, Seite 232. http://thata.net/ludwigberichtzuchfluechtlingspolitik1957dtvollst.pdf

 

Zitiert nach Walter Matthias Diggelmann, Die Hinterlassenschaft, Roman, Piper, München, 1965, S. 125. Der Roman von Diggelmann beinhaltet eine Zahl von zeitgeschichtlichen Originaldokumenten.

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Quellen:

Die Schweiz bewältigen.

Eine literarische Debatte nach Max Frisch

Mit Beiträgen von Max Frisch, Otto F. Walter, Jean Rudolf von Salis, Peter Bichsel, Adolf Muschg, Walter Matthias Diggelmann, Tobias Amslinger, Ruth Schweikert und Julia Weber

ISBN 978-3-03853-996-4

essais agitées, Band 4

alit – Verein Literaturstiftung, Bern 

www.menschenversand.ch

 

Urs Widmer

Reise an den Rand des Universums

ISBN 978-3-257-24330-7

Diogenes Verlag, Zürich, 2013

Zu Edgar Bonjour:

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Edgar_Bonjour
2 https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/027020/2004-06-07/
3 Ueli Mäder, 68 – was bleibt, 

ISBN 978-3-85869-774-3

Rotpunktverlag, Zürich, 2018, Seite 22 ff.

 

Walter Matthias Diggelmann
Die Hinterlassenschaft

Roman

R. Piper & Co Verlag München, 1965

 

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© Paul Ignaz Vogel
Wabern, 11.09.2019