Als die braune Vergangenheit Bundesrat Ludwig von Moos einholte

Die neueste zeitgeschichtliche Analyse von Hannah Einhaus „Herr von Moos ist untragbar geworden“ führt zu neuen Fragen. Auch zu jener: Wie hingen  Nationalsozialismus und politischer Panarabismus im letzten Jahrhundert zusammen? Die Schweiz und das Kriegsverbrechen im aargauischen Würenlingen anno 1970 mit 47 Toten rücken dabei in den Vordergrund. 


Paul Ignaz Vogel

Die Historikerin Hannah Einhaus erzählt in der Zeitschrift NZZ Geschichte (Juli-Ausgabe 2019) von der Aufarbeitung der Vergangenheit des einstigen Justiz- und Polizeiministers Ludwig von Moos. Titel der Geschichte: „Herr von Moos ist untragbar geworden“. 

 

Es ist auch die Story meiner Zeitschrift neutralität, die sich Ende Dezember 1969 mit einer Medienkonferenz in Zürich an die Medien und somit an die Öffentlichkeit gewagt hatte. Einhaus bringt es mit folgenden Sätzen auf den Punkt: „Mitten im Kalten Krieg enthüllten zwei junge Journalisten, dass der amtierende Justizminister der Schweiz in den 1930er Jahren mit einer bräunlichen, judenfeindlichen und antidemokratischen Publizistik aufgefallen ist. Sie fordern seinen Rücktritt.“ (S. 56 daselbst). Die beiden Redaktoren waren Christoph Geiser und ich.

 

Schlimmste antisemitische Hass-Texte wurden vom „Obwaldner Volksfreund“ verbreitet. Ich zitiere aus der Zeitschrift neutralität (Januar 1970, S. 37). Wir lesen im Obwaldner Volksfreund vom 7. August 1937: „In den friedlichen Mauern Zürichs, in der neutralen Schweiz, finden also Tagungen des Weltjudentums von hochpolitischer und aktuellster Bedeutung statt. Es ist bedauerlich, dass unsere Behörden die Gefährlichkeit solcher weltpolitischer Kongresse nicht einsehen und für die Abhaltung dieser Tagungen grosszügig Schweizer Gastrecht gewähren.“

 

Oder aus der Ausgabe des „Obwaldner Volksfreundes“ vom 8. Januar 1936: „Dass die Judenfrage einmal aufgeworfen werden musste, ist verständlich. Das Judentum hat im deutschen Reich einen teilweise so unheilvollen Einfluss auf das politische, wirtschaftliche und geistige Leben ausgeübt, dass die Judenverfolgung als Reaktion auf diese unerwünschte Tätigkeit angesehen werden muss.“ (neutralität, Januar 1970, S.34).

 

Patriarchenriege der Katholisch-Konservativen (KK) 

 

Hannah Einhaus kommt in ihrem Aufsatz „Herr von Moos ist untragbar geworden“ (NZZ Geschichte Nr. 23 / Juli 2019) auch auf den Freiburger Historiker Professor Urs Altermatt zu sprechen. Nach Auffassung dieses eidgenössischen Konkordanz-  und Bundesrats-Geschichtswissenschaftlers sei von Moos „kein rechtsextremer Heisssporn“, sondern eher ein „Durchschnittstyp des katholisch-konservativen Jungpolitikers“ gewesen. Gut, dies zu wissen. Suchen wir doch, diesen „Durchschnittstypen“ (so Altermatt) Ludwig von Moos in seine typische Umwelt einzubetten: Es ist der politische römische Katholizismus, ein Konservativismus, der stets Mühe hatte, sich gegenüber dem Faschismus und Nationalsozialismus abzugrenzen, denn bestand doch ein gemeinsamer Nenner. Es einte sie alle die seit 2000 Jahren praktizierte Judenfeindschaft im ganzen christlichen Abendland - je in verschiedenen Varianten. 

 

Ein kleiner Exkurs sei gestattet: Da wäre der KK-Mann Jean-Pierre Musy zu nennen. Er amtierte von 1919 bis 1934 als schweizerischer Bundesrat, trat dann aus Protest zurück, da der Souverän eine demokratiefeindliche Volksinitiative abgelehnt hatte. Später begab sich Musy senior in den Bann der nationalsozialistischen Bewegung, nahm als Romand während des Zweiten Weltkrieges Partei für die Achsenmächte und vertiefte seine Freundschaft zum Massenmörder Heinrich Himmler, was in einer improvisierten, von Hitler im zweiten Anlauf unterbundenem Himmlerschen Image-Rettungsversuch (Kauf von 1‘200 todgeweihten Juden und Jüdinnen) gipfelte. (Quelle: Wikipedia). 

 

Pierre Musy, ältester Sohn von Jean-Pierre Musy („de père en fils …“) gewann 1936 im Bobfahren an den Olympischen Spielen in Nazideutschland Gold für die Schweiz. 1963-67 amtierte er als Chef des Schweizerischen militärischen Geheimdienstes. Er war also damals mächtigster Player bei den Staatsschützern, die auch gegen meine Zeitschrift neutralität (1963 gegründet) angetreten waren. 

 

Antijüdische Seilschaften von 1933 bis 1971

 

Hannah Einhaus berichtet in ihrem Beitrag in der NZZ Geschichte (Juli 2019) nicht nur über die Enthüllungen zu den antisemitischen Hetzartikeln im „Obwaldner Volksfreund“. 

 

Sie klappt auch ein anderes, bisher wenig bekanntes, aber ebenso unrühmliches Kapitel in den Tätigkeiten von Ludwig von Moos auf, das aufzeigt, dass dieser auch als Bundesrat die antisemitische Denkweise dreissig Jahre später nicht abgelegt hatte. Der amtierende Justiz- und Polizeiminister protegierte als Mitglied der Katholisch-Konservativen Partei (KK) der Schweiz seinesgleichen aus der westdeutschen CDU (Christlich-Demokratischen Union). Nachdem Bundeskanzler Konrad Adenauer 1963 aus dem Amte geschieden war, tat sein ihm treu ergebener Staatssekretär Hans Globke dasselbe. Er suchte nach Wegen, seinen Ruhestand in der Schweiz zu verbringen. 

 

Einhaus: „Globke hatte in NS-Deutschland den Kommentar der Nürnberger Rassengesetze geschrieben, welche die Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradierten und letztlich den Grundstein für die vollständige Entrechtung und Vernichtung der Juden unter Hitler legte.“ (S. 58). In der DDR war 1963 Globke in Abwesenheit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Ein Jahr nach seiner Pensionierung, im 1964, wäre Globke fast die Niederlassung in der Schweiz gelungen, dank seines Freundes Ludwig von Moos, wie Einhaus berichtet. Verhindert wurde die Aktion durch eine Interpellation das Landesring-Nationalrates Werner Schmid im Oktober 1964. 

 

Mögliche Gründe fürs Globkes Asylbegehren in der Schweiz erhellte Volker Wagener am 16.07.2016 in der Deutschen Welle: „Als der israelische Geheimdienst Mossad Adolf Eichmann in Argentinien aufgegriffen und nach Israel entführt hatte, war die Alarmstimmung im Kanzleramt groß. Eichmann hatte im Vorfeld seines Prozesses handschriftliche Aufzeichnungen gemacht, die an den Bundesnachrichtendienst gelangten. Darin macht Eichmann Globke schwere Vorwürfe. Eichmann zufolge habe er nur ausgeführt, was Männer wie Globke formuliert hatten. Die Papiere wurden nie publik.“. Siehe daher auch:

https://www.dw.com/de/braun-gef%C3%A4rbtes-kanzleramt-der-fall-globke/a-19395498 

 

Verschwörungstheorien vom Nil

 

So erstaunt es nicht, dass die Enthüllungen der Zeitschrift neutralität Ende 1969 zu den antijüdischen Entgleisungen des Obwaldner Volksfreundes (mit dem alleinigen Redaktor Ludwig von Moos) sehr rasch ein internationales Echo fanden. 

 

Die halbamtliche Tageszeitung „Al Ahram“ aus Kairo (Ägypten) bekundete Sympathien für den von uns kritisierten Justizminister Ludwig von Moos. Die Zeitschrift „Sie + Er“ zitierte in ihrer Ausgabe Nr. 7 / 1970 vom 12. Februar „Al Ahram“ vom 26. Januar 1970: „Eine zionistische Propagandamaschinerie organisiert eine Schmutzkampagne gegen Bundesrat von Moos“. So zitierte die „Sie + Er“ weiter: „Die „unter zionistischem Druck“ lancierten Vorwürfe hätten den Zweck gehabt, „von Moos zu überreden, die Appellation … der arabischen Guerillas (von Kloten) ans Bundesgericht zu unterbinden.“„.Dazu wäre festzustellen: Das Urteil vom Dezember 1969 wurde im Bezirksgericht gefällt. Nächste Instanz wäre das Obergericht des Kantons Zürich gewesen. Aber Sachkenntnisse und Verständnis des schweizerischen Rechtsstaates mit seiner Gewaltentrennung zwischen Juriskative und Exekutive (Bundesrat) waren nicht Sache der proarabischen AgitatorInnen am Nil. 

 

So weit die Verschwörungstheorien der antijüdischen Freunde von Ludwig von Moos.

 

Mit den „arabischen Guerillas“ meinte „Al Ahram“ die Terrrorgruppe der PLFP, einen Zweig der palästinensischen Organisation PLO.  Drei Personen sassen in einem Zürcher Gefängnis, verurteilt nach einem Attentat auf eine israelische El Al-Maschine auf dem Flughafen Zürich-Kloten im Februar 1969.

 

Eidgenossenschaft erpresst

 

Hannah Einhaus analysiert in ihrem „NZZ Geschichte“ Beitrag auch die Verstrickung der Justiz- und Polizeibehörden, deren oberster Chef immer noch Ludwig von Moos war. Einhaus: „Noch hatte sich im Gerichtsprozess Ende 1969 gegen die Attentäter von Kloten die Gewaltenteilung eines Rechtsstaates durchgesetzt.“„ Dies hätte sich nach dem Anschlag auf ein Swissair-Flugzeug in Würenlingen im Februar 1970 und die Entführung einer Swissair-Maschine im September nach Jordanien geändert. Einhaus: „Der Bundesrat beugt sich dem Druck der Terroristen und entlässt die verurteilten Palästinenser aus dem Zuchthaus. Ein Jahr später tritt der Justizminister von Moos zurück.“ (S. 59).

 

Die Palästinenser hatten 1970 mit der Entführung einer Swissair-Maschine, die sich auf dem Flug von Zürich nach New York befunden und in der jordanischen Wüste bei Zarqa notlanden musste, ein Faustpfand in der Hand. Sie nahmen die Passagiere in Geiselhaft und schlugen vor, diese freizulassen, wenn unter anderem die drei nach dem Zürcher El-Al-Attentat 1969 verurteilten Täter freikämen. Ein Deal für diesen „Gefangenaustausch“ wurde über die Kanäle des IKRK eingefädelt. Was mitunter bedeutete, dass es zwei verfeindete Kriegsparteien gab: Die Schweizerische Eidgenossenschaft einerseits und die palästinensische Terrorbewegung (PLO) andererseits. Diese wurde erstmals vom IKRK als „Kriegspartei“ anerkannt. Welch eine Aufwertung nach dem Massaker von Würenlingen, das 47 unschuldigen und nicht-kombattanten Zivilpersonen anfangs 1970 das Leben gekostet hatte!

 

Rechtsstaat Schweiz ade

 

Es war der Schwarze September angebrochen. Ein schwarzer Tag auch für die schweizerische Eidgenossenschaft, die ihre Souveränität opferte und sich einer  Erpressung ergab. Der Bundesrat beugte sich am 15. September 1970 dem terroristischen Druck. Er begann um 9 Uhr seine Sitzung, in Anwesenheit einer Vertretung des Regierungsrates des Kantons Zürich. Mit dieser Synchronizität wurde der Instanzenweg beschleunigt. Der eidgenössische Justiz- und Polizeiminister Ludwig von Moos konnte sich zudem so diskret aus der Schusslinie nehmen.

 

Es kam zu einem ekklatant politischen Entscheid gegen den Rechtsstaat. Gemäss Bundesrats-Protokoll vom 18.September 1970 beschloss der Schweizerische Bundesrat etwas, das zentral den Verantwortungsbereich von Bundesrat Ludwig von Moos betraf. Er wird im Protokoll mit einem verklausulierendem Beamtendeutsch erwähnt: „ Bezüglich der Vorbehalte des Präsidenten des Kassationshofes des Kantons Zürich endlich, der in einem Schreiben an Herrn Bundesrat von Moos die Verantwortung für die Freilassung der Häftlinge in Zürich ablehnt, erklären die Vertreter des Regierungsrates des Kantons Zürich, dass sie sich dieses Falles annehmen und diese Angelegenheit erledigen werden.“ 

 

Verantwortliche Mitglieder des Bundesrates waren zu jener Zeit nebst Ludwig von Moos (KK, heute CVP) Roger Bonvin (KK, heute CVP), Pierre Graber (SP), Hans-Peter Tschudi (SP), Ernst Brugger (FDP), Enrico Celio (FDP) und Rudolf Gnägi (BGB, heute SVP). 


Auch von Moos hielt es mit den Arabern

Aber schon vorher hatte unter Ludwig von Moos, anno 1969 Bundespräsident, das Gerangel der politischen Behörden gegenüber der unabhängigen Justiz begonnen. 

Vier palästinensische Attentäter hatten am 18. Februar 1969 eine nach Tel-Aviv startende israelische El-Al-Maschine beschossen, um sie zum Halten und später zur Sprengung zu bringen. Der Copilot wurde tödlich getroffen. In einem Duell am Tatort konnte  der israelische Sicherheitsbeamte Modechai Rachamim einen bewaffneten Attentäter unschädlich machen. Vor dem Geschworenengericht Winterthur wurden die drei überlebenden Attentäter zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, Rachamim – in Selbstverteidigung nach dem Angriff - mangels anderer Beweise frei gesprochen.

Wie der Recherche von Marcel Gyr „Schweizer Terrorjahre“ (Verlag NZZ, 2016) zu entnehmen ist, hatte Ludwig von Moos schon vor Start des Winterthurer Terroristen-Prozesses versucht, das Verfahren den  regionalen Justizbehörden des Kantons Zürich zu entziehen und unter Bundeshoheit weiter zu führen. Das heisst, unter eigene Kontrolle zu bekommen. In der damaligen Zeit wurde der Bundesanwalt noch vom Bundesrat, und nicht vom Parlament gewählt. Sie war somit auch Befehlsempfängerin des Bundesrates - vertreten durch den Bundespräsidenten und in Personalunion durch den Justiz- und Polizeiminister Ludwig von Moos. 

In einem Beschlusses-Entwurf des Bundesanwaltes hiess es: „Der Prozess hat sich auf unsere auswärtigen Beziehungen, insbesondere jene zur arabischen Welt, belastend ausgewirkt. Die Herbeiführung einer Entspannung, namentlich auf politischer Ebene, erscheint und unter den gegebenen Verhältnissen als geboten.“ (Marcel Gyr, „Schweizer Terrorjahre“, S. 97 ff). Ludwig von Moos, zusammen mit seinem Gehilfen Hans Walder standen somit von Anfang an hinter der proarabischen Lobby in Bundesbern, zusammen mit dem damaligen SP-Aussenminister Willy Spühler. Erst am 5. November 1969 liess der Bundesrat die Pläne der Übertragung des Strafverfahrens zum Klotener Attentat in eidgenössischer Kompetenz fallen.(S.98), da inzwischen das Winterthurer Gericht öffentlich zur Anklage geschritten war.

Nie gesühntes Massaker von Würenlingen

Die grausame Quittung kam umgehend. In München übergaben palästinensische Attentäter ein Bombenpaket der Flugpost nach Tel Aviv. Es wurde umdisponiert und die tödliche Fracht landete in einer Swissair-Maschine Zürich-Tel Aviv. Am 21. Februar 1970 explodierte diese während des Fluges über schweizerischem Hoheitsgebiet. Die Maschine sank und zerschellte im Wald bei Würenlingen (Kanton Aargau), nur wenige hundert Meter von den dortigen Atomanlagen entfernt. 47 Tote waren zu beklagen. Das Verbrechen wurde nie gesühnt, es wurde auch nie formell Anklage vor einem schweizerischen Gericht erhoben.

Am 9. August 2018 teilte die Schweizerische Bundesanwaltschaft auf ein Wiederaufnahmebegehren lakonisch mit: „Überdies führte die Prüfung der Strafakten zum Schluss, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme der Unverjährbarkeit der Tat nicht erfüllt sind und für das Strafverfahren "Würenlingen" die Verjährung eingetreten ist.“ Als Straftatbestände gab die Bundesanwaltschaft an: Mehrfacher Mord nach Art. 112 StGB und Gefährdung durch Sprengstoffe in verbrecherischer Absicht nach Art. 224 ff. StGB.

Offenbar wurde übersehen, dass seit 2010 eine neue Rechtslage in der Schweiz gilt. Denn die eidgenössischen Räte hatten ein neues Bundesgesetz zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs verabschiedet. Es wurde am 18. Juni 2010 in Kraft gesetzt und betrifft Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Geiselnahme etc..

Das Attentat von Würenlingen war eine Tat an einer unschuldigen Zivilbevölkerung, das heisst ein Kriegsverbrechen. Solche Kapitalverbrechen hoher Relevanz verjähren gemäss aktueller schweizerischer Rechtslage nicht, wenn die Strafverfolgung oder die Strafe am 1. Januar 1983 nach dem bis zu jenem Zeitpunkt geltenden Recht noch nicht verjährt war. Das sagen die heute geltenden Gesetze.

Wie nun weiter? „Nachträglich hat die Affäre um die neutralität dem Ansehen von Ludwig von Moos wenig geschadet,“ hält Hannah Einhaus zutreffend in ihrer neuesten Studie fest (S. 59). Die Seilschaften des Vertuschens waren stärker als der Wunsch nach  Aufklärung. Doch es geht um mehr als um eine Person, es geht um Öffentlichkeit, um weniger Lücken in der Schweizer Geschichte, um mehr Wahrheit und Gerechtigkeit.

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Quellen:

Hannah Einhaus, „Herr von Moos ist untragbar geworden“, NZZ Geschichte, 
Zürich,Juli 2019, S. 56 – 60.
Einzelheft Fr. 23.-.  zu bestellen bei www.shop.nzz.ch/geschichte

Zeitschrift neutralität
Bern, 1970, Januarausgabe, S, 33 ff.

Arthur Schneider, Goodbye everybody 
Flugzeugabsturz Würenlingen 1970 / Eigenverlag, Würenlingen, 2015
 ISBN 978 3033052123

Marcel Gyr, Schweizer Terrorjahre
Das geheime Abkommen mit der PLO / Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2016, 
ISBN978-3-03810-145-1

Interdepartementale Arbeitsgruppe «1970»
Schlussbericht vom 3.5.2016
https://www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/publications/Geschichte/interdepartementale-arbeitsgruppe-1970_de.pdf

Nichtanhandnahme- und Nichtwiederaufnahmeverfügung der Bundesanwaltschaft

Art. 310 und 323 StPO. 26. Juli 2018

https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/53196.pdf

 

Bundesgesetz über die Änderung von Bundesgesetzen zur Umsetzung des Römer Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 18. Juni 2010

https://www.admin.ch/opc/de/official-compilation/2010/4963.pdf

 

(PIV, 04.08.2019)

 

 

 

Rechtsstaat Ade: Palästina II


Am 21. Februar 1970 fiel bei Würenlingen im Aargau eine Swissair-Maschine vom Himmel und begrub unter ihren Trümmern 47 Menschen. Sie waren Opfer eines palästinensischen Attentates. Die Fäden zur Täterschaft führten über Westdeutschland in den Nahen Osten. Eine Reihe solcher juden- und israelfeindlicher Attentate wurden bis heute weder verfolgt noch gesühnt. Wo bleibt unsere Rechtsstaatlichkeit?

Paul Ignaz Vogel

Blicken wir zurück in die Zeitspanne der Jahre 1969 und 1970. Vier Mitglieder einer palästinensischen Kommandogruppe hatten am 18. Februar 1969 in Kloten ein israelisches Flugzeug attackiert. Der israelische Kopilot wurde schwer verletzt und starb später im Spital. In Gegenwehr erschoss der israelische Sicherheitsbeamte Mordechai Rachamim einen palästinensischen Attentäter.

Die Attentäter stammten aus dem Kreis der linksgerichteten PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas). Das Bezirksgericht von Winterthur verurteilte diese am 22. Dezember 1969 zu zwölf Jahren Zuchthaus. Der israelische Sicherheitsmann Rachamim wurde freigesprochen. So schworen die palästinensischen TerroristInnen, unterstützt von einigen arabischen Staaten, Rache. Eine schwerwiegende Eskalation bahnte sich im Nahost-Konflikt an, in die auch die Schweiz hineingezogen wurde. Im Untergrund gingen die Vorbereitungen für weitere Missetaten von statten.

Beim Studium von Akten des Schweizerischen Bundesarchivs, in die ich mit einer Sonderbewilligung Einsicht nehmen konnte, stiess ich auf folgenden bemerkenswerten Vorfall: Nach dem Attentat von Zürich-Kloten fiel der Swissair-Hostess Mirjam Kuhn (Pseudonym) am 7. Februar 1970 ein seltsames Verhalten zweier Fluggäste in der Touristenklasse auf. Sie hatte Dienst im Flug SR 643 von Mailand nach Genf. Die beiden fremdsprachigen Unbekannten hantierten an einem Gerät. Es war ein Höhenmesser, den sie kontrollierten. Wiederholt erkundigten sie sich bei ihr nach der aktuellen Flughöhe. Auf ihr Drängen begab sich Kuhn in die Pilotenkanzel, um die tatsächliche Flughöhe zu erfragen. Sie gab diese den Fragenden in der Messeinheit Fuss bekannt. «Doch die beiden Männer verstanden dies nicht, und ich musste meine Angabe in Meter umrechnen», sagte Kuhn später gemäss polizeilichen Untersuchungsakten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv: «Offensichtlich stimmte meine Angabe über die Flughöhe nicht mit ihren Feststellungen am Höhenmesser, welcher nur den Kabinendruck anzeigte, überein.» Sie teilte darauf ihre Beobachtungen über die beiden unbekannten Männer ihren beiden Dienstkolleginnen mit.

Attentäter arabischer Herkunft

 

Nur drei Tage nach dieser seltsamen Beobachtung der Swissair-Hostess Kuhn kam es am 10. Februar 1970 auf dem Flughafen München-Riem zu einem Attentat und einem missglückten Versuch einer Flugzeug-Entführung. «Die Bombe detonierte um 12.53 Uhr auf dem Flughafen München-Riem, wo 33 Minuten zuvor eine Boeing 707 (Flugnummer LY 435) der israelischen Fluggesellschaft El Al gelandet war», schrieb das westdeutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL am 16. Februar 1970. «Zwei weiteren Detonationen folgte das Geknatter von Handfeuerwaffen. Um 12.59 Uhr verließ der erste Notarztwagen das Klinikum rechts der Isar, um elf Verletzte zu bergen. Arie Katzenstein, 32, war bereits verblutet.»

Ein ägyptischer Ingenieur und zwei jordanische Studenten waren gemäss dem SPIEGEL-Bericht zuvor von Paris-Orly nach München-Riem geflogen. Im Transitraum des Flughafens hatten sie mit einer Handgranate und einer Faustfeuerwaffe den El Al - Piloten in einen Nahkampf verwickelt. Die Passagiere hätten aus dem Warteraum ins zwischengelandete Flugzeug der El Al getrieben und entführt werden sollen. Ein zerrissener Kommandozettel in deutscher Sprache wurde aufgefunden: «Guten Abend, meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen. Hier ist der stellvertretende Befehlshaber der 112. Einheit der Martyr Omar Sastadi Division der Aktionsgemeinschaft zur Befreiung Palästinas. Im Namen der palästinensischen Revolution nehmen wir dieses Flugzeug In unsere Befehlsgewalt und benennen es in «Palästina II» um.» Es sollte dank dem beherzten Nahkampf des El Al-Piloten nicht dazu kommen. Zum Überfall bekannte sich die linksextreme «Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PLFP).

Die Zeichen standen damals, anfangs der Siebzigerjahre im vorigen Jahrhundert in Westeuropa auf Sturm. Der Nahostkonflikt hatte euch Europa erreicht. Weitere Attentate auf Flugzeuge wurden von palästinensischen Terroristinnen geplant. Es herrschte zudem der Kalte Krieg, West- und Osteuropa standen sich feindlich gegenüber. Osteuropäische Warschaupakt-Staaten unterstützten die Palästinenser teilweise offiziell, inoffiziell jedoch – durch ihre Geheimdienste – oft auch die europäischen LinksterroristInnen. Die Rote Armee-Fraktion (RAF) und die Brigate Rosse (BR), die beide aus der 68er-Bewegung entstanden waren, verbreiteten Angst und Schrecken in der Bundesrepublik und in Italien und begingen zahlreiche Morde an Prominenten.

 

Doch allererstes Ziel von kollektiven Mordaktionen und verheerenden Attentatsplänen wurden israelische Einrichtungen und jüdische Personen. Es kam zum schrecklichen Anschlag auf eine Swissair-Maschine, die wegen einer eingeschmuggelten palästinensischen Bombe am 21. Februar 1970 bei Würenlingen abstürzte und 47 Menschen das Leben kostete. Weitere Informationen zu diesem Attentat folgen später in diesem Text. Eine sinnbringende Analyse der damaligen Ereignisse fordert unsere Fähigkeiten heraus, auf verschiedenen Ebenen zu erkennen, zu denken, Lücken zu akzeptieren und keine Schlüsse zu ziehen, die sich nicht logisch beweisen lassen. Dazu gehört auch Folgendes:

In Akten der Frankfurter Untersuchungsbehörden, die im Schweizerischen Bundesarchiv eingelagert sind, finden sich Protokolle von Polizeiverhören mit den beiden verhafteten Arabern, die im Zusammenhang mit dem Würenlinger Flugzeugattentat standen. Diese Akten bilden weitere Mosaiksteine im Bild über die damalige terroristische Szene aus arabischen Ländern.

 

Die westdeutsche Polizei verhaftete nach dem Würenlinger Attentat am 26. Februar 1970 Abu-Toboul und Qasem Yaser in Frankfurt am Main. Im offiziellen Polizeianzeiger der Schweiz hiess es dazu: «Verhaftungsgrund: Verdacht der Mittäterschaft beim Sprengstoffanschlag auf ein Flugzeug der «Austrian Airline» am 21.2.70.» Und weiterhin lautete es in den Polizeiakten: «Es wird vermutet, dass die beiden auch mit dem Absturz der «Coronado» in Würenlingen / AG in Zusammenhang stehen könnten.» Die beiden Hauptverdächtigen hingegen, Sufian Kaddoumi und Musa Jawher hatten einen Tag vor den erwähnten Anschlägen die Bundesrepublik, das Land, wo die beiden Paketbomben der Luftpost übergeben worden waren, bereits verlassen und blieben seitdem für einen internationalen polizeilichen Zugriff unauffindbar.

Höhenmesser für Flugzeugattentate getestet

Es wird darin auch vom folgenden Vorfall berichtet, der nur wenige Tage vor dem Würenlinger Attentat stattfand: Gemäss den westdeutschen Untersuchungsergebnissen fuhr bereits am 16. Februar 1970 der jordanische Staatsangehörige Sufian Kaddoumi in seinem Ford M zum Grossen Feldberg im Taunus-Gebirge. Was trieb ihn zu diesem seltsamen Ausflug in der Umgebung von Frankfurt a. Main an?

Kaddoumi reiste nicht alleine, sondern im Quartett. Er wurde begleitet von Yaser Qasem, Jawher Musa und Issa Abu-Toboul. Aus dem Verhörprotokoll von Qasem: «Während der Fahrt öffnete Kaddoumi das Handschuhfach, dabei fiel eine «Uhr» auf den Boden des Wagens …  Unmittelbar danach nahm Kaddoumi diese Uhr in seine Hand, er drückte dabei auch auf einen Knopf, worauf sich ein Zeiger bewegte. Beim weiteren Hochfahren in den Taunus hörte ich plötzlich von Toboul und Jawher Zahlen nennen wie 100, 200 usw. bis ungefähr 600, wie ich mich erinnern kann. Ich drehte mich um und sah, dass auch Jawher und Toboul solche «Uhren» in den Händen hatten.»

Bei seiner polizeilichen Einvernahme sagte Abu-Toboul: «Da nach meiner Erinnerung Kaddoumi und Jawher am Montag, 16. Februar 1970 den Vorschlag gemacht haben, eine Fahrt in den Taunus zu unternehmen, vermute ich, dass sie die «Uhren» aus München mitgebracht haben. Nach ihren Erzählungen waren sie nämlich am Sonntag, den 15. Februar 1970, in München.»

Dem Verhör von Abu-Toboul war auch zu entnehmen, das Kaddoumi in München einen Bruder hatte, der bei der jordanischen Fluggesellschaft Alia arbeitete.

Paketpost nach Jerusalem

Auch begleitete Yaser Qasem am Vormittag des 20. Februar 1970 Musa Jawher auf das Postamt Dornbusch im Frankfurt a. Main. Qasem wollte ein Kleiderpaket an seine Familie nach Kuweit schicken, und er war Jawher bei der Aufgabe eines Paketes behilflich, da der Kollege kaum die deutsche Sprache beherrschte. Qasem füllte für ihn die Paketkarte und die Zollerklärung für das Gepäckstück aus. Die Anschrift war: Radio Mustafa Kashif Shop, King David Street, Jerusalem, Israel. Das Paket, das einen Radio zu enthalten schien, war angeblich für den Bruder von Jawher bestimmt, wie dieser immer sagte. Nämlich. Er müsse «ein Paket nach Hause schicken». Die Gebühr für die Luftpost-Sendung betrug 42.– oder 43.– DM, gemäss Protokollen der verhörenden Polizei aus Frankfurt a. Main. 

 

21. Februar 1970. Eine zweimotorige Caravelle der Austrian Airlines (AUA) auf dem Flug von Frankfurt a. Main nach Wien hatte Glück: Flugkapitän Herbert Thill schaffte es, die Maschine trotz der Explosion im Frachtraum um 10.50 Uhr in etwa 10.000 Fuß Flughöhe auf dem Rhein-Main-Flughafen notzulanden. Es gab keine Opfer. «Die Bombe befand sich im Laderaum des Flugzeuges in einem Postsack, der in Wien in einen Flug nach Israel umgeladen werden sollte», schilderte Jahrzehnte später Florian Markl vom Mediendienst MENA-Watch (31. Januar 2016) die Situation: «Der Sprengsatz war an ein Barometer angeschlossen und explodierte, als OS 402 eine Flughöhe von knapp 3000 Metern erreichte.»

 

Am gleichen Tag, aber nur weniger als drei Stunden später ereilte das entsetzliche Drama die Swissair mit ihrem Coronado-Flug SR 330 von Zürich-Kloten nach Tel-Aviv. Nach dem gleichen Muster wie in Frankfurt hatte die Maschine eine Bombe an Bord. Diese explodierte beim Flug über die Alpen. Das Flugzeug Basel-Landschaft versuchte vergeblich, nach Kloten zur Notlandung zurückzukehren. Rauch drang ins Cockpit ein, das elektrische System fiel aus. Das Flugzeug wurde unmanövrierbar und zerschellte im aargauischen Würenlingen am Boden, nur einige hundert Meter von den Atomanlagen entfernt. Alle 38 Flugpassagiere und 9 Besatzungsmitglieder mussten ihr Leben lassen.

Teilgeständnis

Den deutschen Verhörakten, welche im Schweizerischen Bundesarchiv eingelagert sind, kann aus der arabisch-terroristischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland entnommen werden: Abu-Toboul traf im Frankfurter Heim der Arbeiterwohlfahrt am 23. Februar 1970 seinen Kollegen Qasem in der Küche. Dieser erklärte Abu-Toboul unvermittelt: «Die Besuche Kaddoumi und Jawher haben mir mein Leben gekostet.» Qasem sagte, er sei es gewesen, der das Paket auf dem Postamt abgegeben hatte, durch welches das Flugzeug «Schaden erlitten hat».

Für die Angeschuldigten Abu-Toboul und Qasem wurden Mitte des Jahres 1970 das Verfahren wegen Mittäterschaft eingestellt und die beiden straffrei des Landes verwiesen. Die beiden Hauptverdächtigen der AUA- und Swissair-Attentate des 21. Februar 1970, Sufian Kaddoumi und Musa Jawher hatten sich einen Tag vor der Tat, schon am 20. Februar nach Cairo, resp. nach Ammann abgesetzt. Sie wurden nie gefasst.

Zur direkten Täterschaft für das Attentat von Würenlingen hielt die Schweizerische Bundesanwaltschaft am 26. Juli 2018, S. 4/5 fest: «Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kommt als Bombenträger für die Coronadoexplosion nur ein von Kaddoumi am 20.2.1970 in München 2 nach Jerusalem aufgegebenes Flugpostpaket in Frage, das normalerweise von einer EL AL-Maschine transportiert worden wäre, aus nicht voraussehbaren Verumständungen heraus dann aber nach Kloten geflogen und dort in die Swissair-Coronado umgeladen wurde.»
 

Demzufolge fand das Attentats-Paket, das in Frankfurt a. Main der Flugpost mit der Destination Jerusalem übergeben worden war, via die AUA-Maschine nach Wien (und Tel Aviv) den Weg zur frühzeitigen Explosion in der Luft. Dieser Attentatsversuch verlief glücklicherweise glimpflich.

Gleiche Täterschaft, gleiche Technik

Die Schweizerischen Bundesanwaltschaft hielt 2018 fest: «Es bestehen zwischen den beiden Anschlägen vom 21.2.1970 (AUA und Swissair Coronado) derart enge Zusammenhänge, dass sich die Annahme zwingend aufdrängt, sie könnten nur von den gleichen Tätern begangen worden sein. Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch die Sprengstoffexplosion im Coronado-Flugzeug durch einen als barometrischen Kontaktgeber hergerichteten Höhenmesser Altimeter 50 M ausgelöst wurde, wie dies bei der AUA-Explosion nachgewiesen werden kann.» (Nichtanhandnahme- und Nichtwiederaufnahmeverfügung Art. 310 und 323 vom 26. Juli 2018).

Die Gründe, warum die Bombe angesichts der Kabinendruckhöhe nicht bereits auf dem Flug München-Zürich explodierte, führt die Bundesanwaltschaft auf verschiedene technische und personelle Faktoren zurück. Womit die Korrelation zwischen Kabinendruck und effektiver Flughöhe gegeben wäre. Und die eingangs dieses Textes erwähnten Beobachtungen der Swissair-Hostess Mirjam Kuhn auf dem Flug Mailand-Genf zumindest Verdachtsmomente beinhalteten, die auf eine im Voraus auskundschaftende Täterschaft im Team hinwiesen. Unmittelbar nach dem Attentat von Würenlingen bekannte sich ein Generalkommando der Volksfront zur Befreiung Palästinas PFLP zur Tat.

Nachträglich ist man bekanntlich immer klüger. In der polizeilichen Einvernahme am 1. April 1970 zu Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Attentat von Würenlingen hatte Kuhn bedauert, dem ausserordentlichen Vorfall damals nicht mehr Beachtung geschenkt zu haben. Denn sie wollte im Alltagsstress bei der Abwicklung der Routinearbeiten nicht ins Hintertreffen geraten. Auch konnte sie sich nicht mehr erinnern, in welcher Fremdsprache sie sich mit den beiden seltsamen Fluggästen unterhalten hatte.

Auch dem untersuchenden Polizeibeamten unterliefen Fehler – Denkfehler. Gemäss Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv notierte er: «Bekanntlich sind Kaddoumi und Jawher am 8.2.1970 vom Vorderen Orient nach München geflogen, während Abu-Toboul und Qasem in der kritischen Zeit in Frankfurt aufgehalten haben müssen.» An eine aktive und wirkungsvolle Komplizenschaft im Umfeld der palästinensischen TerroristInnen wurde dabei nicht gedacht. Die Sicherheitsbehörden standen damals vor einem vollkommen neuen Phänomen, und es fehlte ihnen auch an analytischen Erfahrungen und Fähigkeiten.

Das auffallende Verhalten der zwei unbekannten Passagiere des Swissair-Fluges 643 vom 7. Februar 1970 von Mailand nach Genf wurde nach dem Coronado-Attentat von Würenlingen nicht weiterverfolgt. Der diensttuende Zürcher Detektiv-Wachtmeister in der Einsatz-Leitstelle «Coronado-Absturz» legte den protokollierten und von zwei Kolleginnen Mirjams bestätigten Vorfall gemäss einer polizeilichen Aktennotiz ad acta. Zur Passagierliste des SR-Fluges 643 wurde seltsam argumentiert: «Die angeführten Familiennamen sind durchwegs italienischen, französischen und deutschen Ursprungs. Arabisch lautende Namen befinden sich nicht darunter.»

Straffreiheit für Mordtaten

Die deutsche Justiz ihrerseits liess es nie zu einer Anklage wegen Mordes für die vier in die Attentate AUA / Swissair involvierten Personen kommen. Auch die Attentäter von München (10. Februar 1970) wurden nie gerichtlich belangt. Die Schweiz ihrerseits brachte es fertig, sich ebenfalls 1970 durch die Entführung einer Swissair-Maschine nach Zerqa in die jordanische Wüste erpressen zu lassen. Die beiden nach dem Klotener Attentat 1969 rechtsstaatlich verurteilten Terroristen und die Terroristin wurden frei gelassen. Die Schweiz bestreitet amtlich und offiziell bis heute die Unverjährbarkeit des Würenlinger Attentats vom 21. Februar 1970.

Fazit: Am 21. Februar 1970 gingen, von Höhendruckmessern gesteuerte Bomben- Pakete hoch. Beide Geräte wurden in der Bundesrepublik Deutschland an fiktive Adressen in Israel aufgegeben, das eine in Frankfurt a.Main, das andere in München. Die eine Fracht verpuffte, die andere führte zum Massenmord. In der fraglichen Swissair-Maschine ab Zürich-Kloten handelte es sich um umgeladene deutsche Luftpost. Die in Würenlingen von den schweizerischen Untersuchungsbehörden gesammelten Teilchen und Papierschnitzel mit Absendern aus Deutschland und AdressatInnen in Israel beweisen dies, wie es den Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv zu entnehmen ist.

Die andere Diplomatie

Doch was geschah diplomatisch am 22. Februar 1970, dem Tag nach dem schrecklichen Attentat von Würenlingen und dem Attentatsversuch in der AUA-Maschine Frankfurt a.M. – Wien? Worum ging es damals weltpolitisch?

Der Zeittafel über Aussenbeziehungen der Botschaft des Staates Israel in Berlin entnehmen wir: «22. Februar 1970. Der israelische Außenminister Abba Eban trifft am Flughafen München ein. Sein Besuch ist der erste eines israelischen Regierungsmitglieds in der Bundesrepublik Deutschland.»

Die sozialliberale Regierung unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) suchte eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staate Israel. Die Schweizerische Eidgenossenschaft dagegen führte eine konträre Politik, knüpfte Kontakte zu palästinensischen Terroristinnen an und versuchte, diese mit Straffreiheit für ihre Morde zu besänftigen. Verantwortlich in diesen Aktionen war der schweizerische Bundesrat.

Diese Linie des Appeasements gegenüber Terroristinnen wurde auch von der Schweizerischen Bundesanwaltschaft unterstützt, dem Geheimdienst, der damals direkt dem EJPD-Bundesrat unterstand. Sodann profilierte sich in solchen Aktionen auch Aussenminister Pierre Graber, ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, wie Marcel Gyr 2016 in seiner Studie «Schweizer Terrorjahre. Das geheime Abkommen mit der PLO» (NZZ Libro) nachwies.

 

Westeuropa blieb weiterhin im Visier von palästinensischen Attentätern. Die Situation eskalierte. Zwei Jahre nach dem Anschlag von Würenlingen fand 1972 in München die Olympiade statt. Am 5. September 1972 starben in einem Attentat elf israelische Spieler, fünf Geiselnehmer und ein Polizist kamen ebenfalls zu Tode. Es gab nie eine gerichtliche Abklärung der Tat, die auch von deutschen Neonazis unterstützt worden war, wie WIKIPEDIA zu berichten weiss. Nebst einer grossen Zahl von palästinensischen Terroristinnen in israelischer Gefangenschaft hätten auch zwei deutsche LinksterroristInnen der RAF freigepresst werden sollen.

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Quellen:

Akten zum Fall Würenlingen Swissair / AUA, deren Einsicht mir - lediglich für diese  Publikation - vom Schweizerischen Bundesarchiv bewilligt wurde.

Schweizerische Bundesanwaltschaft:

https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/53196.pdf

Zitierte Medienquellen, z.T. aus dem Internet.

 

© Paul Ignaz Vogel

(PIV, 13.12. 2019 / 19.04. 2022)

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Nachtrag

siehe auch:

https://www.nzz.ch/schweiz/swissair-anschlag-in-wuerenlingen-die-rolle-der-geheimdienste-ld.1539622

 

Wie der amerikanische Insider im mehrstündigen Gespräch mit der NZZ erläuterte, habe der Mossad die palästinensische Terrorzelle um Sufian Kaddoumi in Frankfurt auf ihrem Radar gehabt. Einzelne Mitglieder der Zelle hätten während ihres Aufenthalts in Deutschland häufig mit ihren Familien zu Hause telefoniert. Diese Telefongespräche soll der Mossad abgehört und so von den Anschlagsplänen erfahren haben.

 

Aufgrund dieser Geheimdienstinformation ergriffen die israelischen Sicherheitsbehörden die bekannten Massnahmen, mit denen sie die Flugzeuge der El Al aus dem «Schussfeld» nahmen: die Umleitung des Fluges in München und die vorübergehende Nichtannahme von Paketpost in Frankfurt.

 

(NZZ, 18.02.2020)