Paul Ignaz Vogel: Tauwetter

Zur Ausstellung „Friedrich Dürrenmatt 1968“ im Centre Dürrenmatt Neuchâtel ist die Publikation Cahier 18, CDN / ISBN 978-2-9701109-7-2 erschienen - mit dem Text "Tauwetter".  Der Verfasser Paul Ignaz Vogel weist auf die Zeitschrift Neutralität hin, die er 1963 gründete und die 1974 eingestellt wurde. Die Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg und des atomaren Patts zwangen damals zur friedlichen Koexistenz. Lesen Sie hier den Text:

 

Paul Ignaz Vogel

 

Am Morgen wanderte ich durch das enge Tal Richtung Wasen. Ich hatte in meiner kleinen Kammer, in einem Gehöft auf rund 1000 Metern Höhe nahe beim Ahorn, einem Berg auf der emmentalischen Seite des Napfgebietes, übernachtet. Es war der 14. Dezember 1990.

Gegen Morgen hatte starker Schneefall eingesetzt, nasses, schweres Weiss war zu Boden gefallen, deckte die düstere Landschaft zu. Den Weg talwärts zu bahnen war nun nicht mehr leicht. Ich stapfte, bis ich die Strasse im Talgrund erreichte. Der Himmel war noch zugedeckt mit Nebel. Dieser verfing sich  wie ein Gespinst in den Tannwäldern rings ums Tal.

 

Als ich beim Gehöft Fritzenhaus vorbei ging, lichtete sich plötzlich der Nebel. Das Tal wurde breiter, von oben drückte die Vormittagssonne ins helle Gewölk und stob die letzten Fetzen weg. Da war sie endlich, die Sonne in ihrer glücklichen Pracht.

Ich ging weiter durch das Tal, den nassen Schnee an meinen Bergschuhen.  Die Helligkeit der weissen und sonnenbeschienenen Landschaft begeisterte mich. Von den Dächern der Häuser und Ställe, auch von den Tannen des nahen Waldes begann es zu rinnen, das nasse Holz roch nach Harz. Im Gehölz am Hornbach zwitscherten die Vögel, glitzerten die Tropfen, der schwere Schnee taute überall. Ein heller, blendender Föhn hatte jäh eingesetzt.

 

Aus meinen ledernen Rucksack nahm ich das Transistorradio hervor und hörte die Schweizer Nachrichten: Friedrich Dürrenmatt war zur frühen Morgenstunde im fernen Neuenburg gestorben, wurde verkündet. Jetzt ist er hier im hinteren Emmental, dachte ich, perplex über meinen Gedanken. Ehrfurchtsvolles empfand ich, Nähe. Zurück gekehrt in seine geliebte bernische Heimat - zurück in seinem traum- und märchenhaften Tannenland der prägenden Kindheits- und Jugendzeit in Konolfingen. Das Aufblitzen des Föhnhimmels, eine kosmische Feier. So viel vergängliches Weiss, soviel Reinheit, Licht und Wärme war bei uns. Tauwetter hatte eingesetzt.

 

Atomkrieg in der Schweiz

Zu diesem Zeitpunkt hatte auch Tauwetter in der Weltpolitik begonnen. Kalter Krieg, drohender Atomkrieg, Eiszeit und dann – Tauwetter. Ja, wir wollten damals, vor 1989, überleben, den Kalten Krieg überstehen, mit friedlicher Koexistenz es versuchen. Aus den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges waren zwei diametrale Militärblöcke entstanden: Die NATO für die sogenannt freie Welt des Kapitalismus unter der Führung der USA und der Warschauer Pakt als Allianz der sogenannt sozialistischen Länder unter der Führung der Sowjetunion. Die Schweiz gehörte zu keinem Bündnis, war offiziell neutral. Doch wer nicht in der Kategorie „Lieber tot als rot“  dachte und differenzierte Bestrebungen für einen dritten Weg, für einen Ausgleich zwischen den feindlichen Systemen, für eine Beendigung des atomaren Patts kämpfte, galt rasch als Agent des Feindes, des Kommunismus, der „Roten“.
  

Um die damalige weltpolitische Position von Dürrenmatt besser zu verstehen, seien drei Etappen aus seiner geistigen Existenz herausgegriffen: Der Text „Der Winterkrieg in Tibet“ aus dem Jahr 1981, der 1969 weiter gereichte Grosse Literaturpreis des Kantons Bern und die Rede zur Gottlieb-Duttweiler-Preisverleihung an den tschechoslowakischen Präsidenten Vaclav Havel anno 1990.

Dürrenmatts Text „Der Winterkrieg in Tibet“ ist ein sarkastisches Mahnmal, wie es eben hätte kommen können - auch in der Schweiz, nach einem Atomschlag des  dritten Weltkrieges 1). Zu Dürrenmatts Horror-Visionen gehören viel abgründiger Spott über verstörende Kampfsituationen und Kampf-Wesen, die unterirdisch ihr militärisches Unwesen treiben. Kampf bis zum Letzten führt zur Absurdität. Mit dem Beschrieb der Kavernen im Tibet oder mit der post-Hiroshima-Nagasaki-Welt im Berner Mittelland  mit Bundeshaus deutet Dürrenmatt auf  Werte und Haltungen hin: Platz den Menschen, Platz dem Leben.

Dialog statt Vernichtung

Wie war denn Dürrenmatt dazu gekommen, mir ein Drittel des Grossen Bernischen Literaturpreises weiter zu reichen? Im Klima der beständigen Angst lag meine Zeitschrift „neutralität“ als Gegenstimme richtig. Auch sie verbreitete Hoffnung auf einen ausgehandelten Frieden, auf einen Abbau der weltweiten Gegensätze. Oft wurde ich gefragt, wie diese Zeitschrift „neutralität“ entstanden war, und warum sie diesen fast offiziellen Titel trug.

Im Jahre 1962 hatte die Sowjetunion Kuba mit Atom-Raketen bestückt. Sie waren eine reelle Bedrohung für die nahen USA. Die freie Stadt Westberlin, in der ich damals studierte, war eine Insel mitten im sozialistischen System und das Gegenpfand zu Kuba. «Máximo Líder» Fidel Castro, Kubas Führer  befürwortete einen Atomkrieg um seine Position zu wahren. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der damalige Herrscher im Kreml zog jedoch die provokativen Vernichtungswaffen von Kuba ab. Was hatte das mit Berlin zu tun? Die vier Siegermächte von 1945, die USA, UdSSR, Grossbritannien und Frankreich  hatten  das eroberte Berlin in vier Sektoren eingeteilt. Der Sowjetsektor wurde 1961 mit der Berliner Mauer in die DDR einverleibt. In Ostberlin fand anfangs 1963 der Parteitag der staatstragenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) statt. Chruschtschow war zu Gast.

 

Willy Brandt, Sozialdemokrat und damals Regierender Bürgermeister von Westberlin, wollte nach Ostberlin reisen um  Chruschtschow die Lage der Menschen im unzingelten Westberlin zu erklären. Die CDU-Opposition verhinderte dies. Tags darauf fuhr eine kleine Delegation aus kirchlich-evangelischen Kreisen zu Chruschtschow. Unter ihnen befand sich auch Dr. Erich Müller-Gangloff von der Evangelischen Akademie und von der Aktion Sühnezeichen. Er hoffte, dass eine Geste der Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen in Osteuropa von  Chruschtschow gebilligt würde.

Zurück in Westberlin informierte Müller-Gangloff an einer studentischen Veranstaltung der Freien Universität Berlin (FU).  Nach dem Referat „Kann man mit den Russen sprechen?“  stellte ich mich dem Referenten als FU-Studenten aus der Schweiz  vor. Er überreichte mir vor Ort sein Typoskript und meinte, ich sollte doch schauen, dass sein Text in der Schweiz publiziert werde. Dieses Land sei doch neutral. Nach der Rückkehr von meinem Aufenthalt in Deutschland eilte ich zur Druckerei, für deren „Basler Volksblatt“ ich Kunstkritiken schrieb. Und mit viel Goodwill konnte ich die erste Nummer der „neutralität“, kritische Schweizer Zeitschrift für Politik und Kultur in Auftrag geben. Ich war ein mittelloser Student. Der erste Beitrag auf der ersten Seite der „neutralität“  Nr. 1 (1963) war das Referat von Müller-Gangloff  2). Als Titel für die Publikation hatte ich das Wort Neutralität gewählt. Eine unpatentierbare Marke, wie ich später feststellen musste. Mein Land hielt diesen Titel und beanspruchte dessen exklusive Nutzung für seine Aussenpolitik.

Von guten Kräften

Ich war unverfroren und als Optimist unbekümmert, setzte meinen Sololauf fort.  Da gesellte sich Walter Muschg  Professor für deutsche Literatur an der Universität Basel, dazu. Er verhalf mir zu anonymen Spenden, mit denen ich die Druckkosten für einige Ausgaben der Zeitschrift bezahlen konnte. Ich hielt auch durch, als Muschg leider sehr früh starb. Die Quelle der Unterstützung versiegte. Aber inzwischen hatte die Zeitschrift „neutralität“ Ansehen bei SchriftstellerInnen und JournalistInnen gefunden. Immer mehr Menschen waren froh, unabhängige Texte und Reflexionen zu lesen, die aus dem Kaltkriegsschema-Denken einen Ausweg, einen dritten Weg suchten und fanden. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt gaben der Zeitschrift ein Interview. Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Frankfurt schrieb über die Auschwitz-Prozesse. Peter Bichsel, Jörg Steiner, Kurt Marti, Hugo Loetscher, Walter Mathias Diggelmann, Walter Vogt, Hansjörg Schneider, Urs Widmer, Arnold Künzli, Konrad Farner, Günther Grass, Heinrich Böll, Rolf Hochhuth etc. gehörten zu den Autoren. Auch Sergius Golowin schrieb für die „neutralität“. Die Internationale der Kriegsdienstgegner, für die Arthur Villard arbeitete, kam zu Wort. Christoph Geiser half in der Redaktion mit. Berühmte Karikaturisten wie Ernst Mattiello, H.U. Steger und Jürgen von Tomeï publizierten in der „neutralität“. Um nur einige Namen zu nennen. Dazu gehörte auch der Surrealist H.R.Giger, der vor allem für die Zeitschrift "opposition" der Anti-Atombewegung arbeitete. Als diese, von Hans Steiger, einem späteren Politiker der Zürcher Linken redigierte Publikation ihr Erscheinen einstellte, konnte die "neutralität" ihre LeserInnenschaft beerben.

 

Auch durfte ich bei Dürrenmatt zu Besuch sein, es kam zu einem unveröffentlichten Gespräch. Welch ein geistiger Reichtum trat zutage, wenn sich sein Denk-Perpetuum-mobile in Gang setzte. Es kreiste um die Verpflichtung zur Bewahrung  unseres Daseins in einer bedrohten Epoche, um die menschliche Existenz und um die Existenz des Globus. Zum Ritual des Empfangenwerdens gehörte, dass Dürrenmatt in seinem Weinkeller eine Flasche mit meinem Jahrgang 1939 aussuchte, und die wir nachher kredenzten. Schön, einen  Menschen mit einem gereiften Wein zu vergleichen. 1939 war mit dem Beginn des 2. Weltkrieges ein schreckliches Erdenjahr gewesen, aber ein guter Wein-Jahrgang.

Festmahl in der Grande Société

1969 hatte Dürrenmatt ein Heimspiel in Bern hervorragend inszeniert. Die Literaturkorrespondentin des Schweizer Fernsehens hatte mir vorgeschlagen,  ich sollte doch am Samstagnachmittag, den 25. Oktober ins Stadttheater Bern kommen, Dürrenmatt würde sprechen, weil er den Grossen Literaturpreis des Kantons Bern erhalten sollte. Also ging ich hin, sass im Parkett und hörte relativ gelangweilt den offiziellen Reden zu. Dann plötzlich die Sensation, die er auslöste.

 

In seiner Dankesrede teilte Dürrenmatt die Ehre mit Sergius Golowin, Arthur Villard und mir. Er überliess  uns Geehrten je einen Drittel des Preisgeldes von Fr. 15‘000.-: Golowin setzte sich für die Ausgegrenzten und Rechtlosen, die Fahrenden, die bewegten Jugendlichen, die Minderheiten ein. Arthur Villard , eine Kämpfer gegen die Atomkriegsgefahr, ein Schweizer Soldat mit vielen Aktivdiensttagen während des 2. Weltkrieges, hatte aus Protest wegen eines fehlenden waffenlosen  Zivildienstes seinen Militärdienst verweigert. Er musste für seine Überzeugung und seine Zivilcourage  mit Gefängnis büssen. Mir dankte Dürrenmatt in seiner Laudatio dafür, dass ich die Zeitschrift „neutralität“ aufgebaut  hatte – und die Schweiz nicht zum Vorwand, sondern ernst nehme.

Darauf herrschte im Stadttheater Bern Bestürzung -  oder auch eitle Freude. Das Schweizer Fernsehen befragte uns 3). Ich stand als Grünschnabel erstmals vor einem Mikrofon und  einer Kamera, die lief, als mein Vorredner neben mir sprach und ich es nicht bemerkte. Voller Lampenfieber sollte ich umgehendst zu meiner neuen Situation Stellung beziehen. Zum Glück gelang mir dann der Auftritt vor der Kamera mit meiner improvisierten Erklärung. Ich plante, mit dem Geld von Dürrenmatt künftig den Mitarbeitenden der Zeitschrift „neutralität“ ein kleines Honorar zu bezahlen. 

 

Das folgende Festmahl im Du Théâtre (Treff der Aristokratie im  Ancien Régime) für die in die Grande Société Geladenen  und Ungeladenen entsprach  Dürrenmatts Vision: Steife Damen mit Lacktäschchen,  Herren in klassischen Festtagsanzügen, gestylte Krawattenträger, dazwischen Hippies und Rocker, die sich zu Sergius Golowin gesellt hatten. Dürrenmatt schaute glücklich auf die kunterbunte Hippie- und Rocker-Szene und meinte, er möge halt junge Leute sehr, die Trachten trügen.

 

Gegen Ende des Abends klopfte ich mit einem Besteck an ein Weinglas und hielt vor versammeltem Publikum eine freie Dankesrede an Dürrenmatt. Wie ich mich zu erinnern vermag, etwa in dem Sinn: Das Preisgeld sei schliesslich Steuergeld. Und dass wir als gleichberechtigte Bürger auch Steuern zahlten, es nicht schätzten, als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt und vom Staat drangsaliert zu werden.. 

Die Nervosität im Saal war gestiegen, einzelne Damen, folgsame Begleiterinnen ihrer Gebieter und  Herren, hatten bereits zu ihren lackierten und glitzernden, versilberten, vergoldeten Täschchen gegriffen. Sie zeigten sich bereit, auf ein entsprechendes Kommando den Saal mit ihren Männern unter Protest zu verlassen. Aber keiner der anwesenden Häuptlinge getraute sich, das Zeichen zum vorzeitigen Aufbruch zu geben. Dürrenmatt lächelte immer noch verschmitzt, strahlte vor sich hin. Der Coup war ihm gelungen, die Inszenierung perfekt. Als er aufstand, ergriff er ein Bouquet roter Rosen, das ihm überreicht worden war und gab es Arthur Villard, zu Handen dessen kranker Frau. Viele Emotionen wurden wach.

Stunde der Wahrheit 

Der Kalte Krieg dauerte nicht ewig. 1989 brach die Berliner Mauer zusammen. Ende 1991 war Schluss mit der Sowjetunion. Wir Oppositionelle, frei Denkenden, unabhängigen Intellektuellen hatten für die offizielle Schweiz als Staatsfeinde gegolten und wurden staatlich als potenzielle Feinde erfasst und polizeilich fichiert. Selbstverständlich wurde auch die Literaturpreisübergabe anno 1969 geheimdienstlich observiert und registriert. Durch meine Rechtsanwältin erhielt ich erst im Jahre 1995, also  mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Dürrenmattschen Literatur-Preisübergabe, meine Staatsschutzakten. Ich musste unter anderem feststellen: Auch freie Wahlen waren im Kalten Krieg nicht geduldet worden. Die Polizei hatte sich in die Innenpolitik eingemischt. Wie das in Diktaturen üblich ist.

Als SP-Mitglied Arthur Villard 1971 für den Nationalrat kandidierte, schaltete sich der Staatsschutz ein. Der Nachrichtendienst des Polizeikommandos Bern meldete am 18. November 1971 an den Polizeidienst der Schweizerischen Bundesanwaltschaft BERN/Bundeshaus: „Nationalratskandidatur des Dienstverweigerers und Grossrats VILLARD Arthur, 4.10.1917, Lehrer in Biel. Im Vorgeplänkel der Nationalratswahlen zeigte sich, dass sich verschiedene Personen vehement und mit äusserstem Einsatz für den Bieler-Lehrer einsetzten. Dass sich diese Hilfsmannschaft vorwiegend aus Extremistenkreisen rekrutieren würde, war zu erwarten. Diese Helfer sind unserem Dienste daher zum Teil bereits bekannt.“ Es folgte die Liste der Unterzeichnenden. Darunter befanden sich auch Dürrenmatt, Golowin und ich.

Die letzte Preisverleihung

Vaclav Havel, Dramaturg und Schriftsteller des Absurden, war ein Dissident in der staatssozialistischen Tschechoslowakei, ein bedeutender Abweichler vom offiziellen Kurs der kommunistischen Partei gewesen. Nachdem er nach der Wende von der Diktatur zur rechtsstaatlichen Demokratie Staatspräsident der tschechoslowakischen Republik  geworden war, erhielt er am 22. November 1990 den schweizerischen Gottlieb-Duttweiler-Preis  für seine Opposition in seiner Heimat während  den dunklen Zeiten des Kalten Krieges. Dürrenmatt hielt an der Feier als letzter seine berühmte Rede „Die Schweiz – ein Gefängnis“ 4). Da wird unser Land als Groteske dargestellt. Die BürgerInnen sind frei, zugleich jedoch ihre eigenen GefängniswärterInnen. Sie bewachen sich selbst. Hierzulande herrscht  Angst vor dem, was draussen in Europa geschieht. Es gibt riesige Aktenberge aus der Überwachung; sie wachsen ins Unermessliche. 

In einem Interview nach der Rede an Havel (Michael Haller, Dramaturgie des Denkens, Bd. 4, S. 146 ff. Diogenes, Zürich, 1996) erinnerte Dürrenmatt daran, dass nicht nur die Tschechoslowakei Dissidente hatte, sondern auch die Schweiz 5). Er nannte die Dienstverweigerer, erwähnte Arthur Villard und bekundete auch Mühe, die sogenannte Fichenaffäre einzuordnen. Knapp eine Million EinwohnerInnen waren während des Kalten Krieges vom Staatsschutz observiert und drangsaliert worden, und zwar ohne jede gesetzliche Grundlage. Tauwetter nach der Eiszeit des Kalten Krieges nun auch in der Schweiz. All das war schwer zu verstehen und einzuordnen.

 

Brach etwa die verstörende Erkenntnis über die Schuld der offiziellen Schweiz Dürrenmatt  das Herz? Genügte eine Groteske vielleicht  nicht mehr als Erklärung für das krebsartige Gebilde der flächendeckenden Bespitzelung? Offensichtlich bekundete er in der Havel-Rede Schwierigkeiten, das Enorme zu begreifen. Nach der Preisverleihung an Havel konnte Dürrenmatt nur noch wenige Wochen leben.

Im Kalten Krieg gab es auch in unserem Land Behördenwillkür, Unterdrückung, politische Verfolgungen über Jahrzehnte hinaus. Daraus entstanden systemische Nachteile im Beruf und Leben. Bedeutet mir mein Leben rückblickend nur dies?

 

Eine Opferrolle lehne ich darum ab. Freiheit,  Würde und selbstbestimmtes Denken bleiben meine Werte. Friedrich Dürrenmatt setzte sich  für ein freies Geistesleben in der Schweiz ein. Dafür danke ich ihm von Herzen.

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1) Friedrich Dürrenmatt, Der Winterkrieg in Tibet. In Werkausgabe in siebenunddreissig Bänden, Zürich: Diogenes Verlag, 1998, Bd. 28, S. 86 ff.

2) Erich Müller-Gangloff: Kann man mit den Russen sprechen? In: Neutralität. Kritische Schweizer Zeitschrift für Politik und Kultur. Jg. 1, Nr. 1, 1963, Basel: Paul Ignaz Vogel, 1963-1974.

3) Berner Literaturpreis. Sendung. Antenne. 27. Oktober 1969, Schweizer Radio und Fernsehen DRS.

4) Friedrich Dürrenmatt: Die Schweiz – ein Gefängnis- Rede auf Vaclav Havel. In ders.: Werkausgabe in siebenunddreissig Bänden. Zürich: Diogenes Verlag, 1998, Bd. 36, S. 175 ff.

 

5) Michael Haller: Friedrich Dürrenmatt – Über die Grenzen. Zürich: Pendo Verlag, 1992. Geführt am 3. Bis 5. Dezember 1990. Zitiert aus: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt: Gespräche 1961-1990 in vier Bänden. Zürich: Diogenes Verlag, 1996 IV/147 ff.

© Paul Ignaz Vogel

 

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Centre Dürrenmatt Neuchâtel

Neuerscheinung / Novelle parution

Cahier N° 18

 

Friedrich Dürrenmatt 1968.

Studentenbewegung, Basler Theater, Prager Frühling

Mouvement étudiant, Théâtre de Bâle, Printemps de Prague

ISBN 978-2-9701109-7-2.

 

Madeleine Betschart, Vorwort / préface.

Michael Fischer, Friedrich Dürrenmatt – 1968.

Hans J. Ammann, Skalpell mal Endlichkeit , Notizen zur Entstehung von Play Strindberg / Scalpel fois finitude. Notices sur la genèse de Play Strindberg.

Peter André Bloch, Dürrenmatts dramaturgisches  Denken  / La pensée dramaturgique de Dürrenmatt.

Hansjörg Schneider, Dürrenmatts Zeit am Theater in Basel / Dürrenmatt au Théâtre de Bâle. 

Paul Ignaz Vogel, Tauwetter / Dégel.

 

(CDN) / "Friedrich Dürrenmatt – 1968.  Studentenbewegung, Basler Theater, Prager Frühling": Diese Ausstellung zeigt im Centre Dürrenmatt Neuchâtel vom 6. Mai - 9. September 2018,  wie Friedrich Dürrenmatt sich als damals 47jähriger international anerkannter Schriftsteller mit den politischen Ereignissen und den gesellschaftlichen Veränderungen auseinandergesetzt hat.

 

2018 jähren sich zum 50. Mal der Mai 68 und der Prager Frühling. Der Wind des Protestes, der damals durch die ganze Welt wehte, von Paris über Tokio bis nach San Francisco, aber auch durch die Schweiz, hat die Gesellschaft und die Kultur bis heute stark geprägt.

 

Dürrenmatt organisierte damals am Basler Theater eine Protestveranstaltung gegen die Repression des Prager Frühlings, an der Schriftsteller wie Peter Bichsel, Max Frisch und Günter Grass teilnahmen.

 

Was für einen Blick hatte Friedrich Dürrenmatt auf die Studentenbewegung und den Globus-Krawall in Zürich im Juni 1968? In der Ausstellung entdeckt man zudem seine legendäre Lust an der Provokation als er 1969 den Grossen Literaturpreis des Kantons Bern an drei Nonkonformisten weiterreichte und noch erstaunlicher anhand seiner Freundschaft mit „Frozen Tino“, dem Gründer der Schweizer Hells Angels.

 

Rahmenprogramm

 

● Vernissage : Samstag, 5. Mai 2018 um 17 Uhr. Eintritt frei.

Es sprechen: Thomas Facchinetti, Gemeinderat der Stadt Neuenburg; Madeleine Betschart, Leiterin CDN; Michael Fischer, Kurator der Ausstellung. Musik von Morgoran zu 1968. Aperitif.

 

● „Begegnungen mit Dürrenmatt“ im Kino Rex Bern: Sonntag, 6. Mai 2018 um 11 Uhr im Kino Rex Bern, Schwanengasse 9. François Loeb, Schriftsteller, Unternehmer, im Gespräch mit Madeleine Betschart, Leiterin Centre Dürrenmatt Neuchâtel. Im Rahmen des Film-Zyklus zu Dürrenmatt.

 

● „Salon Dürrenmatt - Dürrenmatt und 1968“. Samstag, 23. Juni 2018 um 17 Uhr. Eintritt frei. Mit Peter Rüedi, Biograf von Friedrich Dürrenmatt, und Paul Ignaz Vogel, Herausgeber „Neutralität“. In Zusammenarbeit mit dem Deutschclub Neuchâtel. Um 16 Uhr, Führung durch die Ausstellung.

 

● Konzert 1. August, Mittwoch, 1. August 2018 ab 20 Uhr. Eintritt frei. Konzert auf der Terrasse. Um 18 Uhr, Führung durch die Ausstellung.

 

● Gedenkanlass zum Prager Frühling: Samstag, 8. September 2018 um 17 Uhr. Eintritt frei. Begrüssung durch Madeleine Betschart, Leiterin CDN, Laudatio durch Frau Andrea Elscheková Matisová, Botschafterin der Slowakischen Republik in der Schweiz, und Herrn Botschafter der Tschechischen Republik in der Schweiz.

 

● „Salon Dürrenmatt – Dürrenmatt, der universelle Schweizer und der Prager Frühling“. Mit Jean Ziegler, Soziologe, Mitglied Beratender Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrates, Christine Egerszegi-Obrist, Alt-Ständerätin, Präsidentin Memoriav, und Andreas Gross, Alt-Nationalrat, Mitbegründer des Instituts für direkte Demokratie. Um 16 Uhr, Führung durch die Ausstellung. Aperitif.

 

Centre Dürrenmatt Neuchâtel, Pertuis-du-Sault 74, 2000 Neuchâtel, T +41 58 466 70 60

http://www.cdn.ch

 

http://www.bundesmuseen.ch/cdn/00120/00133/02259/02300/index.html?lang=de

 

(PIV, 03.05. / 17.05 / 24.06 / 07.07. 2018 / 08.03.2020)