Die Schweiz – mit Adolf Hitler

Schweizer Geschichte als Rückblick auf vergangene Wirklichkeit. Es geht um die Optik. Aus dem Gesichtswinkel der Nabelschau wäre dies möglich: Mit Selbstverherrlichung, mit historischen Mythen. Entschuldigungsversuchen. Anpassung und Widerstand? Doch auch die Geschichte der eidgenössischen Kollaboration mit Nazideutschland bleibt interessant und bietet neue Aspekte. (Teil 2)

 

Paul Ignaz Vogel

                                                                                                                      «Sein Tod bei Kriegsende hat dann zu einem
                                                                                                                       spürbaren Aufatmen in der Schweiz geführt.» 
                                                                                                                       Historisches Lexikon der Schweiz zu Adolf Hitler                                                                                                                                                     


Wer den Hauptbahnhof Zürich verlässt, steht unmittelbar vor der Statue Alfred Eschers. Er gilt als wichtiger Wirtschaftsmann und Eisenbahnpionier des 19. Jahrhunderts. Seine Einkommen stammten auch aus Kaffeeplantagen auf Kuba, wo rund 90 Sklaven für den Schweizer Unternehmer schufteten. Er wurde Initiant und Manager für den Bau der Gotthard-Bahn, die 1882 ihren ersten Betrieb aufnehmen konnte. Der erste schweizerische Alpendurchstich war geglückt. 30)

Ein weiteres Projekt am Simplon liess nicht lange auf sich warten. Es gelang eine staatsvertragliche Regelung vom 28. Juli 1898 zwischen dem Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft und Seiner Majestät, des Königs von Italien zum Bau und Betrieb einer Eisenbahn durch den Simplon von Brig nach Domodossola. 31). Am 19. Mai 1906 konnte der erste Betrieb aufgenommen werden. 32)

Es entstand grosse Hektik um die Transitachsen der Schweiz. Nachdem 1902 die schweizerischen Privatbahnen zu einem Generalunternehmen SBB verstaatlicht worden waren, kam auch eine staatsvertragliche Lösung für den Gotthard viel eher in Frage. 33) Doch es erfolgte damit eine so starke Bindung an die beiden Nachbarstaaten Deutschland und Italien durch einen nicht kündbaren Staatsvertrag, dass die schweizerische Souveränität stark eingeschränkt erschien Dies führte zu Opposition im Souverän und erst 1921 zur Einführung eines automatischen Staatvertragsreferendums.34)

Deutschland und Italien mit Schweizer Alpentransversalen

Der Bundesrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft, der deutsche Kaiser, im Namen des Deutschen Reiches, und der König von Italien hatten mit Rückwirkung auf den 1.Mai 1909 einen Staatsvertrag zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien betreffend die Gotthardbahn abgeschlossen. In Artikel 3 der internationalen Vereinbarung wurde zur Verteidigung explizit festgehalten: « Die Schweiz hat jedoch das Recht, die zur Aufrechterhaltung ihrer Neutralität und zur Verteidigung ihres Landes nötigen Massnahmen zu treffen.» Unter Artikel 13 hält der Gotthardvertrag fest, dass eventuelle Streitigkeiten zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien schiedsgerichtlich und auf diplomatischem Weg erledigt werden sollten, gegebenenfalls unter Beizug eines unbeteiligten Staates. 35)

Im Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 machten sich die Siegermächte des 1. Weltkrieges - unter Führung von Frankreich - nicht nur gegen dem unterlegenen Deutschland, sondern auch gegenüber der Schweiz mit einem Diktatfrieden bemerkbar. Und – allerdings sehr erstaunlich – wurde bereits damals der lange Arm der USA in Bezug auf die Gotthard-Alpentransversale sichtbar. Denn in Artikel 374 hielten die Siegermächte des 1. Weltkrieges fest: «Deutschland verpflichtet sich, innerhalb einer Frist von zehn Jahren nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags auf einen von der schweizerischen Regierung nach vorheriger Verständigung mit der italienischen gestellten Antrag hin die Kündigung des internationalen Übereinkommens vom 13. Oktober 1909 über die Gotthardbahn anzunehmen. Sollte über die Bedingungen dieser Kündigung kein Einverständnis erzielt werden, so verpflichtet sich Deutschland schon jetzt, sich der Entscheidung eines von den Vereinigten Staaten von Amerika zu ernennenden Schiedsrichters zu unterwerfen.» Die Schweiz hat sich diesem Diktat aus Versailles nie gebeugt. Der Gotthardvertrag gilt noch heute. 36)

Kapital aus Frankreich für den schweizerischen Alpentransit

Eine strategische Eisenbahn-Zufahrtslinie aus Frankreich – durch die Schweiz - direkt zum Simplon erhofften sich vor dem 1. Weltkrieg Militärstrategen und Finanzpolitiker aus Paris. Frankreichs Ostbahn führte via Basel zum Gotthard. Diese Strecke lag aber im elsässisch-lothringisches Gebiet, das damals zum Deutschen Reich gehörte. Ein Grund mehr, von Frankreich eine Umfahrung zu fördern. Deshalb wurde der Bau der Lötschbergbahn Bern-Brig als Zubringer zum Simplon von Frankreich optimal vorangetrieben. Es entstand am 27. Juni 1906 die Berner Alpenbahn-Gesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon. Der erste Zug fuhr am 15. Juli 1913 durch den Lötschbergtunnel. 37) 

«Allerdings kann von der Eidgenossenschaft mit keiner finanziellen Hilfe gerechnet werden. Die Bundesbehörden wehrten sich vehement gegen eine konkurrierende Transitachse. So bleibt dem Kanton Bern nichts anderes übrig, als die Geldmittel anderweitig zu beschaffen. Diese kommen unverhofft aus dem westlichen Nachbarland», schreibt die BLS (Bern-Lötschberg.Simplon). 38)  Und: «Immerhin war der französische Einfluss unverkennbar, zumal der grösste Teil der Prioritätsaktien in Frankreich plaziert worden war. Längere Zeit war auch Paris der Handelsplatz für sämtliche Lötschbergbahn-Aktien und -Obligationen." 

Eine Direktzufahrt aus Frankreich, von Delle über Delémont zum Alpentransit Bern-Lötschberg-Simplon wurde nötig. Am 1. Oktober 1915 nahm die Moutier-Lengnau-Bahn den Betrieb durch den Grenchenbergtunnel auf Das benötigte Kapital stammte ebenfalls aus Frankreich. Betrieben wurde das Teilstück von den SBB. Doch die Strecke gehörte fortan zum BLS-Alpenbahn-System.39)

Fäden des deutschen Generalstabes in die Schweiz

In der letzten Phase des 1. Weltkrieges versuchte der deutschen Generalstab eine einseitige Entlastung im Zweifrontenkrieg im Westen (Frankreich) und im Osten (zaristisches Russland). Durch einen Umsturz im Zarenreich erhoffte man sich einen Waffenstillstand im Osten. Was war einfacher als aus der kriegsneutralen Schweiz einen Revolutionär nach Russland zu importieren, der den Umsturz bewerkstelligen konnte? Die Geschichte ist altbekannt: Organisiert vom deutschen Generalstab und mit aktiver ideologischer und organisatorischer Hilfe von schweizerischen GenossInnen kam am 16.  April 1917, gegen 23 Uhr abends, der Reisewaggon mit Wladimir Iljitsch Lenin im Finnischen Bahnhof im russischen Petrograd an.40)

Die Schweizer Genossen Robert Grimm, eher ein Menschewik (Sozialdemokrat), und Fritz Platten, eher ein Bolschewik (Kommunist) hatten zuvor um den optimalen Einfluss auf Lenin gestritten. Es schien vorerst, als hätte Platten obsiegt. Indessen konnte Grimm sehr rasch auch gute Geschäftsbeziehungen zur Sowjetmacht aufbauen. Der Sozialdemokrat und einstige Führer des Landesstreikes in der Schweiz entpuppte sich bald als gewiefter Einkäufer und Geschäftsmann. 

In einem Brief vom 26. August 1920 an Bundesrat Edmund Schulthess, Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes gab er Lenins Einkaufsliste bekannt. Diese umfasste vom Wunsch nach Lokomotiven («in möglichst grosser Zahl») über Pflüge, Sensen, Sicheln, Seifen. Leibwäsche bis zu Produkten der chemischen Industrie und Uhren etc. Grimm zu Bundesrat Schulthess: « Vorausgesetzt für die Erteilung der Aufträge ist die Ausfolgung der nach Ihrer heutigen Mitteilung noch in Kowno liegenden, vom Rat der Volkskommissäre auf Fritz Platten ausgestellten Vollmacht, unterschrieben von Lenin, Tschitscherin und Krassin. Dabei bestätige ich, dass den Schweizer Behörden ein Kontrollrecht über die Verwendung der Goldbeträge ausdrücklich eingeräumt würde und zur Durchführung der Transaktionen eine in der Hauptsache aus Schweizern bestehende Handelsgesellschaft vorgesehen ist.» Bezahlt würde in purem Gold, das im Zarenreich geraubt worden war. Provisionen für den Vermittler Grimm sicher inbegriffen. Grimm: «Vorläufig steht für die Durchführung dieser Lieferungen ein Kredit bis zu hundert Millionen in Gold zur Verfügung.» 41) 

Grimms fleissiges Geschäftsgebaren als eidgenössischer SPS-Politiker über Jahrzehnte hinaus dürfte während - und vor allem nach dem 2. Weltkrieg - weiterhin im Brennpunkt öffentlichen Interessens stehen. Grimm hatte ja grosse Erfahrung im Einkauf von Waren im Auftrag von fremden Mächten und ihren geraubten Goldreserven. Er stand während des 2. Weltkrieges der Sektion Kraft und Wärme vor. In einem Sendungsbericht hielt das Schweizer Fernsehen fest: «Kurz vor dem Krieg flüchteten die beiden SS-Mitglieder, mit denen Grimm damals verhandelte, in die sichere Schweiz. Der sozialdemokratische Nationalrat Grimm hielt seine schützende Hand über sie, als die Alliierten sie suchten.» 42)

Hitler liebte harte Schweizerfranken

Alfred Escher. Gotthardbahn. Finanzplatz Zürich. Bankgeheimnis. Kreditanstalt. Schweizerfranken. Goldreserven. Kapitalismus pur. Linke und Rechte aus dem Schweizer Establishment buhlten gleicherseits um die Gunst des nördlichen Nachbarn. Darum hatte sich auch der kritische Journalist Niklaus Meienberg mit seinem Werk «Die Welt als Wille & Wahn» an die Elemente zur Naturgeschichte eines Clans herangewagt. Es geht um die Familie Wille aus Zürich, um den Deutschland extrem freundlich gesinnten Schweizer General Ulrich Wille während des 1. Weltkrieges und um dessen Sohn Ulrich Wille junior, Oberstkorpskommandant und Freund der preussischen Militärtugenden. Er war Dozent an der Militärakademie der ETH Zürich und diente dem Schweizer Heer unter General Guisan während des 2. Weltkrieges. 

Auch Adolf Hitlers Besuch in Zürich in der Villa Schönberg am 30. August 1923 kommt in Meienbergs Narrativ vor. In diesem holden Backsteinbau hatte Richard Wagner seine «Tristan und Isolde» komponiert. Eine heilige Stätte also für NationalsozialistInnen. Gastgeber war Ulrich Wille junior, der Bruder von Renée Schwarzenbach-Wille, einer glühenden Antisemitin, die eine Liaison mit einer Sängerin aus dem Wagner-Wallfahrtsort Bayreuth hatte. Das war das Milieu, das Hitler passte, und dieses Zürcher Establishment hatte seinerseits Freude am «Trommler» aus Deutschland. 43)

Hitlers Zürcher Rede trug den vielversprechenden Titel "Zur Lage in Deutschland". Alexis Schwarzenbach schreibt dazu kenntnisreich: «Der eigentliche, vor schweizerischen wie deutschen Behörden verheimlichte Grund für die Reise war freilich die akute Finanznot, in welche die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP aufgrund der galoppierenden Inflation geraten war. Bei deutschfreundlichen Kreisen in der Schweiz sollten Spenden in harter Währung beschafft werden.». Den Kontakt zu den reichen Zürchern hatte NSDAP-Frühmitglied Rudolf Hess vermittelt. Der Zürcher Gastgeber, Ulrich Wille junior, hatte noch im November 1922 an Rudolf Hess geschrieben: «Ausrotten der Juden mit Maschinengewehren ist ein Irrtum». Es wurden anlässlich von Hitlers Zürcher Rede zwischen 11'000 und 123'000 Franken für den Aufbau des Dritten Reiches gesammelt. Eine damals sehr beachtliche Summe war dies. 44)

Alt-Bundesrat verhandelte mit Hitler

Adolf Hitler tritt als Reichskanzler nach mehr als zehn Jahren wiederum in die Schweizer Politik ein. Alt Bundesrat Schulthess hatte sich mit dem amtierenden Aussenminister der Schweiz Guiseppe Motta abgesprochen; in einer vom 3. März 1937 datierten Aufzeichnung zur halboffiziellen Reise nach Berlin hielt Schulthess eingangs als Trumpf fest, dass die Schweiz keine diplomatischen Beziehungen zur UdSSR unterhielte und die Zahl der inländischen KommunistInnen klein wäre. Erst dann folgt die antisemitische Erklärung: «Am 23. Februar wurde ich vom Reichskanzler um 12:45 empfangen… An dieser Stelle hielt ich es für richtig, dem Reichskanzler auch eine Aufklärung über die schweizerische Presse zu geben, da gelegentlich in Deutschland behauptet wird, diese sei verjudet. Ich habe diesen Vorwurf nicht nur abgelehnt, sondern widerlegt und dem Reichskanzler gezeigt, dass jüdische Einflüsse in unserer Presse gar keine Rolle spielen und dass auch Juden in unserer Presse nicht beteiligt sind. Ich tat das nicht, um die Juden zu bekämpfen, sondern um ein Vorurteil, das auf deutscher Seite besteht, zu widerlegen, und eine Schwierigkeit mehr für das gegenseitige Verständnis aus dem Wege zu räumen.» 

Wir lesen weiter im Bericht von Alt Bundesrat Schulthess zu Handen des damals amtierenden Aussenministers Guiseppe Motta. Ein deutschjüdischer Student hatte im Januar 1936 den NS-Gauleiter Gustloff in dessen Haus in Davos erschossen. Hitler kam sodann auch auf diesen Fall des zu sprechen: «Was das Verhältnis zur Schweiz betrifft, sagte Hitler, so wolle er offen sagen, dass der Fall Gustloff für ihn sehr schmerzlich war. Allein er müsse anerkennen, dass die Schweiz nichts dafür könne und dass die Sache korrekt erledigt worden sei. Er betonte noch, dass Gustloff korrekt gewesen sei und in der Schweiz nichts Unrechtes getan habe; deshalb habe ihn die Verweigerung der Zulassung eines Nachfolgers schmerzlich berührt. Er ging dann über diesen Punkt hinweg und ich habe ihn auch nicht weiter erwähnt.»

Im Gespräch mit Alt-Bundesrat Schulthess offenbarte Hitler auch seine hinterhältige Doppel-Strategie gegenüber Frankreich: «Die Schweiz decke die Flanke Deutschlands und erspare diesem Befestigungen, Geld und Truppen; er könne nur wünschen, dass Deutschlands Grenzen so viel wie möglich auf diese Weise gesichert würden. Die Schweiz sei da, sie sei notwendig, und Deutschland könne es nur begrüssen, wenn sie ihre Rüstung organisiere und sich instand setze, um sich nach allen Seiten hin zu verteidigen.» Hiermit gab also Hitler eine erste Definition des militärischen Igels ab, skizzierte den Réduit-Gedanken, den General Guisan später zwangsweise – nach Wegfall des potenziellen Allierten Frankreich – aufnehmen sollte. 

Im offiziellen, von Hitler genehmigten Kommunikee hiess es sodann: «Zu jeder Zeit, komme was da wolle, werden wir die Unverletzlichkeit und Neutralität der Schweiz respektieren. Das sage ich Ihnen mit aller Bestimmtheit. Noch nie habe ich Anlass zu einer anderen Auffassung gegeben. Ich ermächtige Sie, diese Erklärung Ihrer Regierung zu Händen des Schweizerischen Volkes mitzuteilen.» 

Eine Studie der deutschen Internet-Publikation «Geschichte-Wissen» ergänzt: «In einem Gespräch mit Weizsäcker äusserte sich Hitler zwei Wochen später in ähnlichem Sinn: «Der Führer besprach dann sein Einverständnis mit der Schweizer Rüstung"... Hitler gestattete auch den Verkauf von 88 Messerschmitt-Jagdflugzeugen an die Schweiz, deren letzte Tranche im März 1940 abgeliefert wurde. Hätte er die Schweiz als potenziellen Feind betrachtet, hätte er nicht zugelassen, dass sich diese in Deutschland mit hochmodernen Kampfjägern eindeckte.» 45)

Ein verräterischer Trauer-Kranz von Feldmarschall Göring

Hitler hatte 1937 den Verkauf von damals supermodernen Messerschmitt-Flugzeugen an die schweizerische Luftwaffe bewilligt. Während des Frankreichfeldzuges überflogen ihrerseits deutsche Messerschmitt-Maschinen den schweizerischen Luftraum, es kam bei diesen luftpolizeilichen Flügen zu Luftkämpfen und Abstürzen. So am 4.Juni 1940 über dem jurassischen Boécourt, als die Maschine von Leutnant Rudolf Rickenbacher von deutschen Flugzeugen angegriffen, beschossen wurde, abstürzte und der Pilot den Tod fand. Rickenbachers Unglücksmaschine J-310 war noch kurzfristig vor Ausbruch des 2. Weltkrieges im Januar 1939 von den Flugzeugwerken Warnemünde in Deutschland ausgeliefert worden.

Über den Luftkampf erfahren wir unter anderem in einem schweizerischen Gefechtsbericht: «15:35 startete Oblt. Suter mit Lt. Rickenbacher (beide Jumo) und beobachtete bei La Chaux-de-Fonds Bomber, die auf französischem Gebiet Rcht. NE flogen. Er begleitete sie - da der Wolken wegen der Grenzverlauf nicht genau festzustellen war, ziemlich weit südlich fliegend. Er hatte Lt.Rickenbacher aus den Augen verloren, sah dann aber plötzlich vor den drei Bombern ein viertes Flugzeug, das nach einiger Zeit auf den Rücken drehte und in steilem Gleitflug in die Wolken stach, worauf die drei Bomber auch in den Wolken verschwanden. Nachdem er sich für kurze Zeit einer vorüberfliegenden DB-Patr. angeschlossen hatte, kehrte er nach Olten zurück. Ob das von ihm beobachtete vierte Flz Lt.Rickenbacher gehörte, konnte er nicht feststellen, doch muss dies vermutet werden. Lt. Rickenbacher stürzte bei Boécourt tödlich ab.»

Der Zwischenfall wurde offensichtlich – einvernehmlich und diplomatisch zwischen Deutschland und der Schweiz - als angeblicher betriebstechnischer Unfall erledigt. Die schweizerische Flugunfall-Untersuchung stellte als Absturz-Ursache an Rickenbachers Maschine «Mängel» fest, und Feldmarschall Göring, der Kommandant der deutschen Luftwaffe schickte an die Beerdigung von Leutnant Rickenbacher einen Trauerkranz. Voller Wut wurde diese falsche Beileidsgeste von der anwesenden Dorfbevölkerung Lotzwils quittiert und der Kranz vor Ort zerrissen. 46)

Lesen wir dazu in einer deutschen Quelle: «Die Schweiz knickte ein. Am 10. Juni 1940 wurden die Grenzüberwachungsflüge eingestellt, drei Tagte später verbot Guisan aktive Luftkämpfe. Fremde Flugzeuge dürften nur noch in Notwehr angegriffen werden; unbedeutende Verletzungen des Luftraumes sollten gar nicht mehr gemeldet werden. Die 17 in der Schweiz internierten deutschen Piloten kamen frei – ein klarer Verstoß gegen die Haager Konvention von 1907, derzufolge ein neutrales Land fremde Truppen bis Kriegsende zu internieren hatte.» Göring versuchte, den hybriden Krieg am 16. Juni mit der Entsendung von zehn Saboteuren für schweizerische Flugplätze weiter anzustacheln. Es flog rechtzeitig auf. 47)

Der als Unfall getarnt Zwischenfall Deutschland-Schweiz in der Gegend von La Chaux-de-Fonds führte bei General Guisan auch zu einer personellen Kehrtwende. Der Kommandant der Schweizer Flieger- und Flabtruppen, Oberstdivisionär Hans Bandi, fiel in Ungnade und wurde später schmählich aus dem Dienst entlassen. Gefragt waren fortan nur Ja-Sager zu Guisans Réduit-Idee. Appeasement gegenüber Deutschland im Militärischen hatte Vorrang, nicht Kampfeswille. 

Guisan hatte als Oberbefehlshaber der Schweizer Armee mit seinem Einknicken eine Art inoffiziellen Waffenstillstand mit der deutschen Wehrmacht erreicht, in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Deutschen. Auch die Aktenfunde von Charité-sur-Loire am 16. Juni 1940 durch die deutsche Wehrmacht über Manöver-Planspiele der Armeen Frankreichs und der Schweiz - vor Hitlers Westfeldzug - konnten der bereits bekundeten und praktizierten Einvernehmlichkeit zwischen Deutschland und der Schweiz nicht mehr schaden. 48) 49)

Igelstellung für die Schweizer Armee 

Mit der Einbindung der Schweizer Luftwaffe in die deutsche Kriegsrüstung, von Hitler zusammen mit a. Bundesrat Schulthess 1937 kurzfristig ausgehandelt, war es den Strategen der deutschen Wehrmacht gelungen, die Südflanke der Maginotlinie, das heisst das Territorium der Schweiz in ihr Konzept einzubinden. Der Weg wurde so frei für den Angriff auf Frankreich auf der Nordflanke der Maginotlinie. Dieser endete mit der Niederlage der französischen Armee und dem Waffenstillstand von Compiègne am 22. Juni 1940.

Gleichentags, an ebendiesem 22. Juni 1940, hatte General Guisan unter Beisein des Chefs des Generalstabes in Bern die ganze Armeeführung, so die Kommandanten der Armeekorps 1, 2, 3 und 4 versammelt. Es fand eine offene Aussprache über die Einschätzung der aktuellen strategischen Lage der Schweiz statt.

Der deutschfreundliche Oberstkorpskommandant Ulrich Wille jun. wollte mehr oder weniger sofort die weisse Fahne schwenken und trat für eine diskrete Demobilmachung der Truppen und für eine Kasernierung mit Drill ein: «Aus diesen Gründen tritt Oberstkorpskdt. Wille für einen unauffälligen Abbau der Truppenstärke ein unter der Voraussetzung, dass die Truppen in einen Ruheraum zurückgenommen werden, in dem vor allem die mangelnde Kampfausbildung nachgeholt werden soll. Erst für einen spätem Zeitpunkt soll der Bezug eines Zentralraumes vorgesehen werden.» 

Und Wille gab auch das künftige wirtschaftspolitische Handeln des Bundesrates vor, das umgehend – nur drei Tage später, am 25.Juni 1940 - mit dem Empfang einer reichsdeutschen Wirtschaftsdelegation mit ihrem erpresserischen Forderungskatalog begann. Laut Protokoll der Aussprache beim General hiess das so:«Oberstkorpskdt. Wille: Deutschland verlange bekanntlich von Frankreich, dass es sofort wieder die Arbeit aufnehme, um im System des Kampfes gegen England eingegliedert zu werden. In gleicher Weise können auch der schweizerischen Industrie Aufträge zukommen, da unsere Industrie intakt ist und sofort mit den Arbeiten beginnen kann. Unsere Wirtschaft muss es nur verstehen können, sich diese Aufträge zu sichern und damit in die neue Wirtschaftspolitik der Achse eingegliedert zu werden.»

Souveränität für die Alpenbahnen

Oberstkorpskommandant Prisi glaubte, dass man den Grenztruppen nicht zumuten könne, vorn zu halten, wenn die ganze Armee teilweise bis 100 km entfernt sich im Zentralraum besammle. Die Armee wäre schliesslich das Mittel zur Landesverteidigung und könnte nicht 3/4 des Landes vorher preisgeben.

Bezüglich der militärpolitischen Lage zeigte sich Oberstkorpskommandant Labhart nicht zuversichtlich. «Wir müssen uns gefasst machen, dass Deutschland unter Umständen die Bedingung stellt, die Gotthardbahn in eigenem Betrieb zu übernehmen.»

General Guisan fasste eine Konsens so zusammen: «Alle Anwesenden sind einverstanden, dass die Grenztruppen in ihren Stellungen bleiben, dass ausserdem Vorbereitungen getroffen werden, um Munitions- und Verpflegungsvorräte mehr im Landesinnern anzulegen.» General Guisan artikulierte somit erstmals öffentlich die Réduit-Idee.

Das Bestätigungs-Gespräch mit den Korpskommandanten führte zum Resultat, auf das Guisan schon eingangs festgelegt hatte: «Die Schweiz dient gegenüber der Achse als wertvolles Transitland, dessen Alpenbahnen möglichst unversehrt dem sich sicher steigenden Transitverkehr zur Verfügung stehen sollten…Im Augenblicke der Waffenruhe in Frankreich werden wir nicht darum herumkommen, Teile der Armee zu entlassen. Es ist besser, dass wir diese Demobilmachung vorbereiten und nach unserem Gutfinden ausführen können, bevor uns von Seiten Deutschlands diesbezügliche Bedingungen gestellt werden.» Also freie Durchfahrt durch die Alpentunnels – ohne Bedingungen des «Führers». 50)

Auch die Schweiz unterlag deutscher Täuschung

Die deutsche Internet-Plattform «Geschichte-Wissen» weist auf ein bisher wenig beachtetes, aber eminent wichtiges Täuschungsmanöver durch die Nazipropaganda hin: 

«Guisan knüpfte auch diskret Fäden zu der französischen Generalität, die ihm für den Fall eines deutschen Angriffs auf die Schweiz Unterstützung durch französische Truppen zusagte. Sie kamen nicht. Bundesrat, General, Armee und Volk waren einem raffinierten deutschen Täuschungsmanöver aufgesessen. Schlecht ausgerüstete, kriegsuntaugliche Soldaten wurden am Tag per Zug und mit Autos Richtung Schweizer Grenze befördert und mussten nachts zurückmarschieren. Das ganze Spiel wurde mit wenigen Leuten beliebig wiederholt. …Andere Massnahmen waren die vorgetäuschte Vorbereitung von Quartieren für die angeblich ankommenden Truppen, das nächtliche Herumfahren ausgedienter Panzer in Grenznähe, das Vermessen von fiktiven Artilleriestellungen, die Bereitstellung von Brückenelementen und Übersetzmaterial am Rhein und eine rege Luftaufklärung im Grenzgebiet. Das Bündel dieser geschickten Massnahmen narrte nicht nur die Schweizer, sondern – und dies war der eigentliche Zweck – auch die Franzosen, die an ihrer rechten Flanke die Masse ihrer zur beweglichen Kampfführung fähigen Verbände zurückhielten, statt diese wertvollen Divisionen in die Ardennen zu werfen, wo den Deutschen der schlachtentscheidende Panzerdurchbruch gelingen sollte.» 45)

Solche Täuschungsmanöver und die militärische Unterdotierung durch alte und kaum kampferprobte Wehrmachtsoldaten, ein Bluff gegen Aussen und gegen den potenziellen militärischen Gegner, hatte das NS-Regime generell bereits an der Westgrenze des deutschen Reiches, dem sogenannten Westwall, eingerichtet. Eine offizielle Quelle aus dem deutschen Bundesland Rheinland-Pfalz hielt in Aufarbeitung der eigenen Geschichte 2007 fest: «In Deutschland wertete die Propaganda mit eben dieser Stoßrichtung die militärisch gesicherte Westgrenze als Schutzwall gegen Frankreich auf und überhöhte zugleich den tatsächlich bescheidenen militärischen Wert des Westwalls.» 51)

C.M.V. Abegglen, seit 2018 Schweizer Berufsoffizier, Projektleiter militärstrategische Ausbildung, Operative Schulung sieht das in seiner Studie zum Westfeldzug von Adolf Hitler so: «An der Schweizer Grenze dagegen wurden Transporttäuschungen und das Bereitstellen von Kriegsmaterial und Trp (inkl. Rekognoszieren und Vorbereiten von Trp-Ukft durch Quatiermacherkommandos) inszeniert. Denn Deutschland ging davon aus, dass die Schweiz mit Frankreich nachrichtendienstlich in Verbindung stehe. Der schweizerische NaD rechnete mit bis zu 25 Div im süddeutschen Raum. Effektiv befanden sich dort nie mehr als 10 Div von dritter Qualität, ohne genügend Mun. sowie ohne Ustü-Waffen. Täuschungswirkung: … Die T-Massnahme jedoch wurden eingeleitet und franz. Trp im Juraraum wurden in Marschbereitschaft gesetzt, bereit um in die Schweiz auf die Hauenstein-Gotthard-Linie vorzustossen.» 51)

Annemarie Schwarzenbach, eine begnadete Fotografin und Journalistin aus dem Wille-Clan (sie war die Nichte von Oberstkorpskommandant Ulrich Wille jun.) hielt dazu lakonisch fest. «Von dem Tage an, als Frankreich den Kampf aufgab, war die Schweiz dazu verurteilt, deutsche Forderungen zu erfüllen. Vom gleichen Tag an war die schweizerische Unabhängigkeit ein Fiktion.» 43, S.133).

(Fortsetzung folgt)

Quellen:

 

30) https://www.srf.ch/news/schweiz/rassismus-debatte-um-denkmaeler-diese-schweizer-statuen-ruecken-in-den-fokus

31) https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/18950016/189807280000/0.742.140.21.pdf

32) https://www.swissinfo.ch/ger/100-jahre-simplon-tunnel/5180812#:~:text=Mai%201906%2C%20wurde%20der%20Simpon,zu%2010'000%20Arbeiter%20besch%C3%A4ftigt

33) https://company.sbb.ch/de/ueber-die-sbb/profil/geschichte.html

34) https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/19210130/det85.html
35) 
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19090023/index.html

36) http://www.documentarchiv.de/wr/vv12.html
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017251/2005-12-06/

37) https://doc.rero.ch/record/5363/files/2_these_FerberE.pdf

38) https://www.bls.ch/de/unternehmen/ueber-uns/unternehmensportraet/geschichte/geschichte-bls-ag
39) 
https://www.tagblatt.ch/solothurn/grenchen/die-finanzierung-kam-aus-frankreich-und-hatte-politischen-hintergrund-ld.1708643 
40)https://www.unibe.ch/unibe/portal/fak_historisch/dga/micro_lenin/content/e512678/e537760/e552267/Richers_Essayband.pdf
41) 
https://dodis.ch/44604
42) 
https://www.srf.ch/sendungen/dok/die-umstrittene-rolle-des-sozialdemokraten-robert-grimm
43) Niklaus Meienberg, Die Welt als Wille & Wahn, Limmat Verlag Genossenschaft, Zürich, 1987.
44) 
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=tra-001:2006:1::192
45) https://dodis.ch/46299
https://geschichte-wissen.de/foren/viewtopic.php?t=4538
46) 
https://www.b17museum.ch/newspdf/69.pdf
47) 
https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article216079900/Schweiz-1940-Als-Messerschmitts-gegen-Messerschmitts-kaempften.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Rickenbacher
48) Anzumerken wäre noch in diesem Zusammenhang folgende Episode, die sich nach Jahrzehnten ereignete: Rudolf Rickenbacher hatte einen Bruder Hans, der ebenfalls als Schweizer Pilot – zwar bei einer Manöverübung - abstürzte (am 8. Mai 1945 beigesetzt). Elsa Rickenbacher, Witwe von einem der beiden Gebrüder Rickenbacher (wahrscheinlich des kombattanten Rudolf), arbeitete als Journalistin für die Zeitschrift «Frau». Sie porträtierte mich und meine Familie unter dem Titel «Junge Männer sind anders». Das zu Hause mit Frau und Kindern (4 und 1-jährig) aufgenommene Foto landete in meinen Staatsschutzakten. Die Publikation des Artikels erschien in einer Ausgabe, die zudem um ein Jahr falsch datiert war. Geheimdienstliche Manipulationen noch und noch, um die Mythen der «wehrhaften Schweiz» aufrecht zu erhalten. Auch ein Staatsgeheimnis für den Staatsschutz. PIV. 
49) 
https://www.srf.ch/sendungen/myschool/luftkampf-ueber-der-schweiz-250

https://www.woz.ch/-1034
50https://dodis.ch/47074
51) 
https://frank-moeller.eu/wp-content/uploads/2017/11/Westwall_08_Inhalt_Einleitung.pdf (S. 52)

http://www.military.ch/abegglen/papers/westfeldzug_1940.html

 

© Paul Ignaz Vogel

(25.01.2021)