Friedrich Dürrenmatt: Fiktion, Groteske – und die Wirklichkeit?

Was wäre geschehen, wenn die deutschen Nazis als erste die Atombombe erfunden hätten? Mit dem doppelten Einsatz dieser Massenvernichtungswaffe gewannen die USA 1945 einen ersten Vorsprung im internationalen Wettrüsten des Kalten Krieges. Friedrich Dürrenmatt lebte, wirkte in jener bewegten Zeit und gestaltete sie künstlerisch. Michael Fischer führt uns mit seinem neuesten Werk «Rauchen in der Pulverfabrik» durch das Denken des berühmten Schweizer Literaten.  

Paul Ignaz Vogel

 

                                                                                                                                     Als Komödienschreiber sitze ich auf dem
                                                                                                                                     einzigen Platz, der einem anständigen
                                                                                                                                     Schriftsteller zukommt: zwischen Stuhl
                                                                                                                                     und Bank.

                                                                                                                                     Friedrich Dürrenmatt, Dankesrede 1969  
                                                                                                                                     zum Grossen bernischen Literaturpreis   
                                              
Zum 50-Jahre-Jubiläum «1968 und Friedrich Dürrenmatt» veranstaltete Michael Fischer, der damalige wissenschaftliche Mitarbeiter des Centre Dürrenmatt in Neuchâtel (CDN) eine Ausstellung, publizierte eine Broschüre zum Thema und organisierte ein Fachgespräch zwischen Peter Rüedi, einem Biographen von Dürrenmatt («Dürrenmatt oder Die Ahnung vom Ganzen») und mit mir als Zeitzeugen. Diese Rückschau wurde zum Ansporn, mich vertiefter mit dem Zeitgenossen Dürrenmatt auseinander zu setzen.

 

Eine Vorbemerkung

 

Michael Fischer, ein junger, unabhängig denkender Wissenschaftlicher holte mich 2018 aus der Versenkung, in die ich 1974 nach Ende der von mir 1963 gegründeten, redigierten und herausgegebenen Zeitschrift «neutralität» geraten war. Ich überlebte die folgenden schlimmen Jahre quasi in der Requisitenkammer des Kalten Krieges abgestellt, verstaubt, altmodisch, nun alt, abseits von Bedeutung und öffentlichem Rang und Wert. Darum gilt mein grosser Dank an Michael Fischer. Er hat das für mich Richtige getan, als Vertreter einer Epoche, die quasi anderthalb Generationen hinter mir liegt. Alles hat seine Zeit, und jede Zeit kennt offenbar ihre Gerechtigkeit und ihre Vorstellung davon.

Ich schreibe also persönlich betroffen – positiv betroffen und zeitgeschichtlich befangen. Nun liegt die Dissertation von Michael Fischer vor, mit der er an der Universität Lausanne seinen Doktorgrad erwarb. Das Buch ist kürzlich im Chronos-Verlag Zürich unter dem Titel «Rauchen in der Pulverfabrik» erschienen und behandelt Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg. Michael Fischer wurde 1981 geboren, studierte an den Universitäten Bern und Luzern Philosophie, Geschichte und Ethnologie. 

Das Buch von Fischer ist sehr empfehlenswert, da es dem Strang der Auseinandersetzungen jener Zeit zwischen 1945 und 1989 folgt. Es mag auch viele jüngeren und jungen Menschen dazu dienen, sich in ein Thema vorzutasten, das schon der Erinnerung und darum der Rede wert ist. Denn der Kalte Krieg war ein Krieg, und alle Betroffenen litten darunter. Auch für mich gilt diese Feststellung.  

Die Schlüsselfigur: Ein deutscher Physiker in Bern

Der Titel zu Fischers Studie «Rauchen in der Pulverfabrik» stammt von Dürrenmatt. Dieser hatte bereits zwischen 1941 und 1951 an einem Theaterstück «Der Knopf» geschrieben, in dem ein General mit einer Höllenmaschine die ganze Welt in die Luft sprengen konnte. Fiktion und Wirklichkeit auch hier. Es gibt eine Notiz von Dürrenmatt aus dem Jahr 1956 über den deutschen Physiker Georg Friedrich Houtermans. Dieser floh nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten mit seiner alleinerziehenden Mutter nach Grossbritannien. 1935 zog es den überzeugten Kommunisten in die Sowjetunion. Er forschte als Kernphysiker an der ukrainischen Universität Charkow, fiel aber bald in Stalins Ungnade und wurde inhaftiert. Aufgrund des Hitler-Stalinpaktes kam es zu einem Austausch zwischen dem sowjetischen NKWD und der deutschen Gestapo. Zurück in Deutschland konnte Houtermans privat weiter forschen und beschäftigte sich 1941 schon mit der Frage zur Auslösung von Kern-Kettenreaktionen. Die USA waren aber schneller mit ihrem Manhattan-Projekt. Mit dem Abwurf der ersten A-Bomben über Hiroshima und Nagasaki anno 1945 endete zwar der Zweite Weltkrieg, begann aber das Zeitalter der atomaren Bedrohung zwischen den Siegermächten. Houtermans zog es nach dem Krieg in die Schweiz, nach Bern, wo er am Physikalischen Institut der Universität bis zu seinem Tod anno 1966 wirkte. Nur nebenbei: Man stelle sich vor, die A-Bombe wäre in die Hände der Nazis gelangt. Davor hatte auch Albert Einstein in einem Brief vom 2. August 1939 den US-Präsidenten Roosevelt gewarnt. 1)

Fischer weist in seiner Studie nach, dass die atomare Bedrohung und ein apokalyptisches Ende der Weltbevölkerung Hauptthemen in Dürrenmatts künstlerischem Schaffen waren. Wenden wir uns also dem zentralen Werk «Die Physiker» zu, das durch einen Einfall beim Aufenthalt 1959 im Kurhotel Vulpera (nahe Schuls-Tarasp) entstanden war. 

Die Irrnisse und Wirrnisse von Menschlichkeit, Verliebtheit, Korruption, Spionage, Verrat im Zeichen eines kommenden Atomtodes der Menschheit können nur in einer psychiatrischen Klinik erlebt und ausgelebt werden. So die Fiktion des Dürrenmattschen Stückes «Die Physiker». Der Autor zielte auf die Wirklichkeit des atomaren Manhattan-Projektes der USA. Fischer hält zu Dürrenmatt fest: «Die Atomphysiker wurden während des Zweiten Weltkrieges ein Teil der Kriegsführung. Das moralische Dilemma, in dem sich die Atomphysiker des Manhattan-Projektes befanden, ist das Thema, das er in den Physikern dramatisiert. Es ist die Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers im Zeitalter des industriellen Massenmords und der Massenvernichtungswaffen.» Was einmal erdacht wurde, bleibt ewig bestehen, so auch die Atomspaltung und ihre militärischen Folgen. Erkenntnisse lassen sich nicht rückgängig machen, sie sind irreversibel. Das dachte Dürrenmatt. Die Tragikomödie «Die Physiker» wurden 1962 in Zürich uraufgeführt, im Jahr, als mit der Kubakrise die Welt an den Rand des atomaren Abgrundes geriet. 2) 

Erstes Tauwetter im Literarischen

Nach 1956 und dem antikommunistischen Ungarnaufstand hatten die Theaterstücke von Dürrenmatt allmählich auch auf den Bühnen von Osteuropa, von Polen, der CSSR, in Rumänien und Bulgarien Anklang gefunden. In der UdSSR gelang der Durchbruch 1966. 

1964 hatte Dürrenmatt noch am Schriftstellerkongress in Kiew teilgenommen, die Ukraine gehörte damals zur Sowjetunion. Er lernte dort Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen. In der Debatte lehnte Dürrenmatt jeglichen Personenkult für Schriftsteller*innen ab. 1967 folgte die Reise nach Moskau zur Teilnahme am vierten sowjetischen Schriftstellerkongress. Aus jenen Erfahrungen und Beobachtungen entstand 1971 die Satire «Der Sturz» über mörderische Machtkämpfe im Sowjetsystem. Ein Thema, das er in einem Interview mit Christoph Geiser in der Zeitschrift "neutralität" aufgriff. 

«In den 1960er-Jahren war Dürrenmatt als Dramatiker in Osteuropa wesentlich populärer als in den meisten westeuropäischen Ländern oder in den USA», schreibt Fischer in «Rauchen in der Pulverfabrik». Dürrenmatt kam jedoch aus ideologischen Gründen in der DDR nicht an. Da mochte hineingespielt haben, dass jenes staatssozialistische Land jenseits des Eisernen Vorhanges zweite Heimat eines anderen Literaten, von Bertolt Brecht blieb. Bevorzugt vom Machtapparat.

Dürrenmatt gelang das Kunststück, in beiden tödlich verfeindeten Lagern des Kalten Krieges Beachtung zu finden. Nach der Inszenierung der «Alten Dame» am Broadway von New York besuchte er 1959 erstmals die USA. Ein geschicktes Verhalten und einem sarkastischen Schuss an Opportunismus schien Dürrenmatt gut zu passen. In den zeitgeschichtlichen Antagonismen fühlte er sich, innerlich schelmisch lachend, als angesehener Autor pudelwohl.

So lobte er auch den marxistischen Denker und Ex-Stalinisten Dr. Konrad Farner, einen Kulturhistoriker aus der PdA Schweiz als ideologischen Konterpart und wehrte sich gegen dessen extreme Diffamierung im Kalten Krieg der Schweiz. Auch materiell unterstützte Dürrenmatt diesen helvetischen Systemkritiker. Nachdem Dürrenmatt sich 1968 am Basler Theater in den Protest gegen die Besetzung der CSSR durch Ostblockarmeen eingereiht hatte, ebbte die Sympathie für ihn jenseits des Eisernen Vorhanges ab. 3)

Falsche Analogien

Atombombe - und Holocaust - als Grotesken? In seiner Analyse «Rauchen in der Pulverfabrik» beschreibt Fischer, wie Dürrenmatt den Einsatz einer Atombombe als Symbol der drohenden Selbstzerstörung den Inbegriff des Grotesken darstellte. Fischer: «Ausser Hiroshima ist für ihn Auschwitz ein zentrales Element des Grotesken. Für ihn könne der Holocaust nur in Form eines «schauerhaften Groteske» dargestellt werden.» Meine bange Frage bleibt bestehen: Sah Dürrenmatt in einer „Groteske“ etwa den Holocaust als etwas Surreales, das nicht sein konnte und deshalb auch nicht gewesen war? Nicht Wahr-haben-Wollen? Verdrängung? Und wie war denn die schreckliche Wirklichkeit, die Peter Weiss in seinem Oratorium «Die Ermittlung» darstellte? Ich komme später im Text auf jenes erschütternde literarische Werk zu sprechen.

Schliesslich beschreibt Fischer in seiner Dissertation Dürrenmatts Haltung, dessen Meinung und Erkenntnis zur Verantwortungsfrage der nationalsozialistischen Täterschaft. Diese Verantwortungsfrage weicht bei Dürrenmatt nicht grundsätzlich von jener Adolf Eichmanns ab, wie dieser Menschheitsverbrecher vor dem Jerusalemer Bezirksgericht als Antwort zu Handen der Weltöffentlichkeit gab. Auch wenn es weh tut, das Denken Dürrenmatts hier zu wiederholen: «Das Böse verlagert sich vom Bösewicht in die Anonymität der Apparate. Der Holocaust wurde von Schreibtischtätern über den Beamtenapparat organisiert». Und: «Die Kollektivschuld lässt sich nicht mehr durch einen tragischen Helden darstellen.» 4) 

Nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und der Vollstreckung des gesprochenen Todesurteils anno 1962 begannen in Deutschland heftige Diskussionen um die NS-Zeit. Die Frage nach der noch verdeckten Schuld und der direkten-indirekten Mitbeteiligung an den Menschheitsverbrechen gelangte damals im Schweizerland nie richtig in eine umfassende und öffentliche Diskussion. Es sollte keine unbewältigte Vergangenheit geben. Ganz anders war dies im Ursprungsland der Gewaltorgie, in Deutschland. 

«In den 1960er-Jahren folgte die Auseinandersetzung mit dem Dokumentartheater von Rolf Hochhuth, Hainar Kipphardt und Peter Weiss …», schreibt Fischer zeitgeschichtlich korrekt. An den Frankfurter Auschwitzprozessen (1963-1965) waren auch die Medien zugegen. Aufgrund ihrer Berichte schuf der schwedisch-deutsche Autor Peter Weiss «Die Ermittlung», ein Oratorium in elf Gesängen. Die Uraufführung fand 1965 gleichzeitig (trotz des Kalten Krieges) an 15 Bühnen der BRD, der DDR und in London statt. Das schreckliche Dokumentarstück sollte die Menschheit aufrütteln in einem Werk, wo «die Fakten über diese Hölle auf Erden, die im Prozess zur Sprache kamen, in Gesängen gestaltet: Gesang von der Rampe, Gesang vom Lager, Gesang vom Bunkerblock. In ihnen wurden Täter und Opfer miteinander konfrontiert…» (Verlagstext zum Buch von Weiss). 5) 

Exkurs: Unbewältigte Vergangenheit

Und die Schweiz? Was hatte diese nach 1945 in der Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit bewirkt? Dürrenmatt nahm zwar den Diskurs auf, den Peter Rippmann und Max Frisch in meiner Zeitschrift "neutralität" begonnen hatte. Diese beiden Autoren hoben hervor, wie sehr und wie wenig das Thema der Nazi-Kollaboration bei schweizerischen Schriftsteller*innen ankam, sie kaum berührte. 

Dürrenmatt zog in seinem 1968/1970 verfassten Essay «Zur Dramaturgie der Schweiz» befremdliche Schlüsse. Fischer untersucht in seiner Studie «Rauchen in der Pulverfabrik» intensiv die Hintergründe des damaligen Diskurses und Dürrenmatts Gedankengänge und: «Im Essay «Zur Dramaturgie der Schweiz» beschäftigt er sich erstmals explizit mit der historischen Vergangenheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg». 

Die Niederschrift des Essay folgte zu einer Zeit, als die schweizerischen Bundesbehörden an alle Haushalte in der ganzen Schweiz eine hetzerisches antikommunistisches Pampfhlet, das «Zivilverteidigungsbuch» verteilen liessen. Worin Linke, PazifistInnen, lohnfordernde Gewerkschafter*innen, christliche Theolog*innen usw. der Kollaboration mit dem Feind aus dem Osten Europas pauschal verdächtigt wurden. Immerhin peinlich war für Dürrenmatt Friedrich, dass sein Vetter, Dürrenmatt Peter, in den Dreissigerjahren Fröntler und Nazifreund war und um1969 als Chefredaktor der konservativen Basler Nachrichten in jenem Beirat sass, welcher sich an der Erarbeitung des «Zivilverteidigungsbuches» engagiert hatte.

In der «Dramaturgie der Schweiz» bekannte sich Dürrenmatt zu einem Mittelweg. Ihm war das rechtskonservative Helden-Narrativ einer Schweiz, die sich 1939-1945 angeblich tapfer gegen die feindliche Umwelt behauptete, suspekt. Fischer zitiert Dürrenmatt mit einem Satz, der dessen eigentliche Stellungnahme zu diesem heiklen Thema darstellt: «Doch ist es falsch, unsere bewältigte Vergangenheit nun ins Teuflische umzudichten, dass sie menschlich war, genügt, man bedichte sie lieber überhaupt nicht.» So was hörte «man» im offiziellen Bern natürlich gerne, sehr gerne. Einst, heute, und wohl noch lange in der Zukunft?

Menschliche Dramen ohne Dramatiker

Man kann Dürrenmatt zu Gute halten, dass wir in der Zeit um 1968/1970 nicht über die nötigen Erkenntnisse aus der Geschichtsschreibung verfügten, welche Jahrzehnte später zum Beispiel die Bergier-Kommission gewann. Mindestens 25'000 Flüchtlinge wurden an der Schweizergrenze zürückgewiesen – und fanden in Deutschland den sicheren Tod. Der Chef der eidgenössischen Fremdenpolizei, der diese unmenschliche Politik des Bundesrates vollzog, wurde von Dürrenmatt nach 1945 in einem Sketch für das Cabaret Cornichon einfach als Überbürokrat lächerlich gemacht und erhielt anstelle des echten Namens Rothmund das Pseudonym Blauhals. Das war eine nicht sehr tiefgreifende Erkenntnis in das eidgenössische Kollaborieren mit Nazideutschland.

Fürwahr, es kam während des zweiten Weltkrieges in der Schweiz selbst zu individuellen Dramen bei der Ausweisung, die einer dramaturgischen Bearbeitung dienlich gewesen wären. Stoffe wären schon damals ohne offizielle Geschichtsschreibung in Hülle und Fülle vorhanden gewesen, wenn Dürrenmatt sich darum tatsächlich darum gekümmert hätte. Nur ein Beispiel. Ich erinnere an die Tragödie, welche die Historikerin Dr. Hannah Einhaus publizistisch aufgriff. Mitte August 1942 war ein jüdisches Paar aus Belgien in die Schweiz geflüchtet und versteckte sich auf dem israelitischen Friedhof in Bern. Die Behörden wurden eingeschaltet. Der Präsident der jüdischen Gemeinde Bern, Dr. Georges Brunschvig versuchte, ein Gespräch mit Rothmund, dem FREPO-Chef oder gar mit Bundesrat von Steiger herzustellen. Vergeblich. Die Behörden begingen Wortbruch und schoben die Verzweifelten ins besetzte Nazi-Frankreich ab. Beide wurden darauf nach Auschwitz deportiert. Die Frau fand dort umgehend den Tod, der Mann überlebte bis zur Befreiung 1945.

Zum Bild der Schweizer Schuld im Zweiten Weltkrieg würde auch das Verhalten von Rothmund passen. Nachdem Rothmunds Vorgesetzter Bundesrat von Steiger, Vorsteher des EJPD in Zürich-Oerlikon im August 1942 erklärt hatte, in Bezug auf Flüchtlinge sei für die Schweiz das Boot voll, reiste FREPO-Chef Rothmund Ende Oktober 1942 zu einer Stip-Visite nach Berlin und hatte dort mehrere Arbeitsbesprechungen mit SS und Gestapo inklusive mit offeriertem Jagdausflug. Im KZ Oranienburg lobte er bei einer Tischrede zum Mittagessen in der Kantine die Vorzüge des schweizerischen Antisemitismus während die Mordmaschinen in den KZs liefen. Zum typisch helvetischen Antisemitismus gehörte: Man wollte die Judenheit ihrer Identität berauben, unsichtbar machen, ins Nichts auflösen indem jüdische Kultur, Tradition, Rituale und der Glaube aus der Gesellschaft verschwänden, ohne  jüdische Menschen deswegen zu ermorden. 6)

Zuwendung zu Schwächeren

Trotz diesem kritischen Exkurs zur tragischen, nach meiner Ansicht immer noch unbewältigten Vergangenheit der Schweizer Geschichte während des Zweiten Weltkrieges möchte ich Dürrenmatt posthum danken. Warum denn? Ich bin gespalten in meiner Empathie.

In jenem Momentum der Selbstreflexion über seine Heimat, die «undramatische Schweiz» hatte Dürrenmatt offenbar auch die Idee zur Kollegialität mit Schwächeren entwickelt. Er erhielt am 25. Oktober 1969 den kantonalbernischen Literaturpreis – und nach seinen Ausführungen über Kulturpolitik setzte er – oh Schreck für die im Stadttheater Bern versammelte grossbürgerliche Elite - zur Provokation an. Dürrenmatt gab den Preis an drei Personen weiter, die es nötiger hätten als er, anerkannt und unterstützt zu werden, wie er in seiner Rede meinte: An Arthur Villard, Dienstverweigerer aus Solidarität, linker sozialdemokratischer Politiker aus Biel/Bienne, Sergius Golowin, einen Volkskundler aus dem alternativen Kulturmilieu Bern (Diskussionskeller Junkere 37), der sich für die Fahrenden, Stigmatisierten, Diskriminierten in der Gesellschaft einsetzte und an mich für die Herausgabe und Redaktion der Zeitschrift "neutralität".

Dürrenmatt mochte sich nicht dem Narrativ der Salon-Revolutionäre nach 1968 aus privilegiertem und gebildetem Elternhaus anpassen. Und so nahm er mit Zivilcourage 1973 Stellung für den Staat Israel, der im Jom-Kippur-Krieg fast dem zweiten feindlichen Angriff seiner arabischen Nachbarstaaten unterlegen war. Es ging damals ums Ganze, um die Existenz oder die totale Vernichtung des jungen jüdischen Staates. Michael Fischer stellt in seiner Studie anerkennend über Dürrenmatts Stellungnahme fest: «Sein Engagement für Israel machte ihn für die Linken endgültig suspekt, da es in den 1970er-Jahren zum linken Mainstream gehörte, für die Palästinenser Partei zu ergreifen.» Die Schweiz selbst war als Staat ins Fadenkreuz der Terroristen geraten und wurde Opfer von drei Attentaten, von jenem in Zürich-Kloten, von jenem über Würenlingen und von der Flugzeugentführung nach Zerka. Doch siegte bald die sogenannte Staatsraison, und die Schweiz arrangierte sich diplomatisch mit der PLO.

Der Staat Israel war seiner Vernichtung nur entgangen, weil Ministerpräsidentin Golda Meir mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen gedroht hatte. Im Recht auf Selbstverteidigung – auch das wäre ein Aspekt zur Berücksichtigung in der Diskussion über die Atomwaffenfrage, um den Einsatz dieses schrecklichen Macht- und Vernichtungsmittels. Dahinter wohl steht der Gegensatz zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, welchen schon der deutsche Soziologe Max Weber definiert hatte.

Vollends in die Nesseln beim damaligen linksradikalen Mainstream setzte sich Dürrenmatt mit seiner öffentlichen Stellungnahme bei der Entführung und Ermordung des Arbeitgeber-Präsidenten Hans-Martin Schleyer. Er plädierte 1977 dafür, dass der westdeutsche Staat sich nicht erpressen lassen sollte und demnach der Entführte zugunsten der Staatsraison zu opfern wäre. Das Sympathiegefälle auf der Neuen Linken Westeuropas war damals fliessend, hakte bei den terroristischen Palästinensern ein, setzte sich über weitere kriegerische Drittwelt-Bewegungen fort und führte oft zur stillen Bewunderung der mörderischen Roten Armee-Fraktion (RAF). 7)

Nach dem atomaren Dritten Weltkrieg

Etwa zur gleichen Zeit, als die RAF mit ihrem Terror uns die berühmten bleiernen Jahre bescherte, schuf Dürrenmatt sein satirisch-eschatologisches Werk «Der Winterkrieg in Tibet». Es ist eine ahnende Gesamtschau der Welt, wie sie nach dem atomaren Dritten Weltkrieg hätte aussehen können. Eine nicht-spassige Warnung. Nicht ohne Sarkasmus wird in dieser Erzählung auch der Sonderfall Schweiz zelebriert, mit zum Teil obszönen lokalen Details. Unmenschliche Kreaturen vegetieren und bekämpfen sich in einem unterirdischen Labyrinth. Die Welt ist verstrahlt und nicht mehr lebenswert. Auch das Blümlisalp-Massiv in der Schweiz dient nur noch einer Schattenregierung als Unterschlupf. Alle Systeme haben versagt.

Doch die Wirklichkeit sah in der Welt zu Beginn der Achtzigerjahre vorigen Jahrhunderts ganz anders aus. Je mehr sich die atomare Supermächte gegenseitig im Kalten Krieg bedrohten, desto mehr hielt das atomare Patt. Absurd, gewiss. Oder noch besser: Die Groteske der damaligen Wirklichkeit, die für ewig festgefügt schien. Auswegslos. Ohne dritten Weg der Entspannung. 

Was denn führte zum abrupten Ende des Kalten Krieges zwischen den USA und der UdSSR, was zum Zerfall der Sowjetunion, als einer der beiden Konterparts in der extrem bipolaren Welt? 

Michael Fischer verfolgt im «Rauchen in der Pulverfabrik» diese Frage. Er beschreibt die Lösung des Weltkonfliktes, wie es damals lange Zeit alleine denkbar schien, nicht endzeitlich und katastrophal als auswegslose Fiktion, sondern als Facette der Dürrenmatt umgebenden Lebens-Welt: Nämlich als Werk von klugen Staatsmännern, von Havel, Gorbatschow etc…Welche schliesslich die Staatsraison retteten und den Frieden herstellten. 

Als Fazit darf sicher festgestellt werden: Auch Friedrich Dürrenmatts gigantisches Werk förderte in hohem Mass die Entspannung und den Frieden in Europa und in der ganzen Welt. Michael Fischers solide Untersuchungs-Arbeit «Rauchen in der Pulverfabrik» dient mit mentalem Engagement ebendiesem Ziel.

Danke den beiden - Dürrenmatt posthum und Fischer heute und jetzt. 8)

***

Eine Nachbemerkung

Das Ende des Kalten Krieges stellte das vorläufige Ende der Welt-Bipolarität dar. Als Zeitzeuge, der immer noch lebt, gestatte ich mir abschliessend einige Überlegungen dazu, wie die Welt aus dieser atomaren Gefahr (vorübergehend) entkommen war. Ich setze etwas mehr strukturelle Schwerpunkte.

Der Kalte Krieg war in erster Linie ein psychologischer Krieg. Durch die grausame Wirklichkeit einer nuklearen Katastrophe 1986 im Kernkraftwerk des ukrainischen Tschernobyl (damals UdSSR) entstand - gleichzeitig und ungewollt - in Ost- und Westeuropa 1986 eine identische gemeinsame Öffentlichkeit. Die atomare Gefahr bestand nicht mehr im Potenzialis, sondern war plötzlich im prägenden Alltag reell da, sowohl im Osten wie auch in Westen. 

Eine gleiche Angst beendete den psychologischen Kalten Krieg. Welche direkten Folgen hatte dies? 

In der Sowjetunion zerfiel die Macht des Geheimdienstes KGB, der zwar vor einer solchen Katastrophe gewarnt hatte, dann aber nach dem Ereignis alles zu vertuschen versuchte. Die Bevölkerung jenseits des Eisernen Vorhanges erlebte erstmals die sinnlich nachvollziehbare Kluft zwischen Staatspropaganda und Wirklichkeit. Diese entstand demnach zwangsweise, war weniger als Willensakt eines einzelnen Staatsmannes, von Gorbatschow, zu sehen. Es ergab sich einfach so, die öffentliche – endlich - vorbehaltlose Sicht auf die Dinge, durch die Dinge, die Transparenz, Glasnost eben, das Erkennen der nach Generationen neuen Wirklichkeit. 

Und was geschah bei uns? Da eine Wolke mit atomarer Verseuchung von Tschernobyl zuerst über den Eisernen Vorhang nach Skandinavien, dann über Deutschland auch über der Schweiz (bis in den Tessin) getrieben war, wurde vom unmittelbaren Verzehr bestimmter Milchprodukte, von Blattsalat, Gemüsen, Pilzen etc. abgeraten. Es tönt schon fast niedlich…Die Atomgefahr, die effektive nukleare Verstrahlung kam sinnlich feststellbar zu uns. Das waren nicht mehr die schrecklichen – und in ihrer Unmenschlichkeit abstrakten - atomaren Kaltkriegs-Parolen «Lieber tot als rot». Keine Propaganda mehr auch von diesseits des Eisernen Vorhanges also.

Sodann wäre ein weiterer Grund für das Ende des Kalten Krieges der wirtschaftliche Zusammenbruch der UdSSR zu nennen. Im Wettrüsten hatten die USA in den Achtzigerjahren die Oberhand gewonnen. Unter der Präsidentschaft von Ronald Reagan wurde die Volkswirtschaft der UdSSR im Rüstungswettlauf so angestachelt, dass schliesslich rund die Hälfte des BIP dafür aufgebraucht wurde. Die Volkswirtschaft der Sowjetunion kollabierte. Die Luft war draussen.

Gleichzeitig führte die UdSSR im afghanischen Zentralasien vom 24. Dezember 1979 – 15. Februar 1989 einen ideologisch begründeten neokolonialen Krieg. Die Sowjetunion wurde von den Taliban und ihren damaligen Helferinnen, den USA besiegt. 9)

Quellen:

1) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021, S. 31, S.96

https://www.deutschlandfunk.de/friedrich-georg-houtermans-lebemann-der-physik-100.html

https://www.uniaktuell.unibe.ch/2013/houtermans/index_ger.html

https://www.pm-wissen.com/geschichte/a/einsteins-brief-und-die-schrecklichen-folgen/5702/

2) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021, S. 95 ff, S. 192, S. 100 ff. 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/buch-zum-grand-hotel-waldhaus-vulpera-antisemitismus-auf-100.html

3) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021, S. 54 ff., 132 ff, 147, 157.

4) Ebenda, S. 101 ff.

5) Ebenda, S. 125.
https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikeldetails/A1000432238

https://www.youtube.com/watch?v=6M-VpDvAvZI

6) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021,                                             
S 134, 159 ff, 163
Hannah Einhaus, Für Recht und Würde, Chronos, Zürich, 2016, Seiten 131 ff.
Paul Ignaz Vogel, Frankreich im Widerstand zur Nazibesatzung, 
www.paul-ignaz-vogel.ch 2021

7) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021, S. 154 ff.
https://www.diepresse.com/1458625/als-israel-schon-zur-atombombe-griff

8) Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Chronos Zürich 2021, S 177 ff., S, 215 ff., S. 229 ff.

9) https://taz.de/KGB-Dossier-zu-Tschernobyl/!5762591/
https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/178868/1989-sowjetischer-abzug-aus-afghanistan-13-02-2014
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/935886/umfrage/verteidigungsausgaben-der-usa-und-der-udsssr

 

Buchhinweis:

Michael Fischer, Rauchen in der Pulverfabrik, Friedrich Dürrenmatts politisches Denken im Kalten Krieg, CHRONOS Verlag, Zürich, 2021, ISBN 978-3-0340-1638-4

 

Zusätzlicher Hinweis zum Thema. 
Michael Fischer war im Team, das dieses Projekt verwirklichte: 
https://nuclear-games.net/intro?useFallback=true

 

(© Paul Ignaz Vogel, 31.12.2021)