Macht und Ohnmacht, Krankheit und Gebrechen

Paul Ignaz Vogel

 

Ueli  Mäder, emeritierter Soziologieprofessor der Universität Basel und Andreas Schwald, Publizist haben die Studie „Dem Alltag auf der Spur“ herausgegeben. Der Frage wird nachgegangen, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse ökonomisieren. Herausgegriffen seien Beiträge über die Rentabilisierung von Krankheiten und körperlichen Defiziten. 

 

In Basel regieren zwei Pharmagiganten: Novartis und Roche. Arroganz der Macht ergibt sich automatisch durch die Erbringung von ungefähr der Hälfte des Steuersubstrates des Kantons Basel-Stadt und als dominante ArbeitgeberInnen. Parteien, Verbände, Institutionen werden vor den Begehrlichkeiten der Pharmaindustrie systematisch unter Druck gesetzt: „Wenn es euch nicht passt, so zügeln wir ins Ausland“, steht als unausgesprochene Drohung im Raum. So wird der Standort Basel/Schweiz politisch und gesellschaftlich durch hohe Unterwürfigkeit von Seiten der Bevölkerung in Basel und Umgebung erkauft. Die Pharma wird hofiert.

 

Pharmaindustrie mit Macht und Diktat

 

Zum Beispiel musste die Stadt Basel der Firma Novartis eine jahrhundertealte Strassenverbindung ins benachbarte Huningue (Frankreich) verkaufen, damit ein grosser Campus erstellt werden konnte. Die heutige Verbindung wird durch einen kurvenreichen Umweg neben dem neuen Privatareal hergestellt. Und die Pharma-Konkurrenz Roche stellte kürzlich im nordöstlichen Kleinbasel das höchste Büro-Haus der Schweiz hin. Es dient der Unterbringung von rund 2000 Arbeitsplätzen. Die so mutierte Skyline von Basel verkündet nach allen Himmelsrichtungen: Hier sind wir. PREMIUM. Im Buch „Dem Alltag auf der Spur“ beschreibt Samuel Schlaefli die Ohnmacht und das Kuschen von Politik und Gesellschaft gegenüber dem Willen und dem optischen Dominanzverhalten von Roche.

 

Ganz abgesehen davon, dass der Neubau eines gigantischen Büroturmes noch nicht den Standort Basel/Schweiz auf Dauer garantiert. Roche zeigt mit seinem optischen Dominanzverhalten, wer unter Anderen im Krankheitssektor das Sagen rücksichtslos beansprucht und somit auch die Preise diktiert. Kunststück, bleiben da das politische Bundesbern und die Krankenkassen ohnmächtig mit ihrer sogenannten Gesundheitspolitik.

 

Kostendenken gegen Mit-Menschlichkeit

 

Vera Nina Looser berichtet in der Studie „Dem Alltag auf der Spur“ von einem erschreckenden Erlebnis vor der Universitätsbibliothek  Basel. Ein dementer betagter Mann wird beim Ausflug an die Basler Messe von der Heimleitung zurück gelassen.  Der stark ermüdete Mann will sich setzen, stürzt und fällt um. Er blutet stark am Gesicht, sein Gehörgerät fällt aus den Ohren. Hilfe eilt herbei, und bei der telefonischen Benachrichtigung der verantwortlichen Person im Heim heisst es: „Oje, das kostet wieder“. Kein Wort der Anteilnahme, des Mitgefühls. Keine Erkundigung, wie es ihm denn gehe, keine geoffenbarte Mit-Menschlichkeit von Seiten der Heimleitung. Im Denken der Pflegenden ist die Buchhaltung zum Wert an sich geworden. Looser: „Da war nur diese eine lapidare Bemerkung, innert weniger Sekunden geäussert, am Anfang eines Gesprächs. Aber zugleich ein Satz aus einer anderen Welt, der einen kurzen Blick auf die Ökonomisierung und Überforderungsmechanismen in Alters- und Pflegeinstitutionen freigibt, wo Kostendruck und Routine die menschliche Anteilnahme überschatten.“

 

Ausgebeutete Pflegerinnen

 

Immer mehr versuchen Betagte und Angehörige von dementen Personen, eine billige Heimpflege aus dem Ausland zu organisieren. Sarah Schilliger beschreibt in ihrem Beitrag „Entgrenzte Arbeit in der 24-Stunden-Betreuung“ die Fronarbeit von polnischen Frauen, die gegen ein Monatsentgelt von rund 1‘000 Euro in der Schweiz zu Hause eine 24-Stundenbetreuung während 7 Tagen und über Monate hinaus übernehmen. Diese Arbeit auf Abruf, bei der jeweils nicht die Präsenzzeit im Haushalt der zu Pflegenden, sondern die nur effektiv getätigte Zeit eines Einsatzes zählt, verschleisst die Pflegepersonen. Sie haben keine Kontaktmöglichkeiten, keine eigentliche Freizeit und arbeiten zu einem Hungerlohn. Eine befragte Polin äussert sich so: „Für mich ist es schwierig zu sagen, ob ich mich überhaupt ausruhe. Wenn ich einmal Freizeit habe, dann mache ich zum Beispiel die Wäsche.“

 

Grundbedürfnisse besser erkennen

 

Mit einer kleinen soziologischen Studie über den „Ohnmachtsraum öffentliche Toilette“ führt uns Viviane Winter aus dem Bereich von Krankheit und Defiziten hinaus in gesunde körperliche Prozesse. Gut zu wissen, dass auch alltägliche Ausscheidungen nach mehr gegenseitiger zwischenmenschlicher Distanz und Intimität verlangen. In diesem grundvitalen Bereich unterliegt der Homo sapiens sapiens ebenfalls dem Drang, zu verdrängen, Macht auszuüben - oder dem Schicksal, situative Ohnmacht zu erleiden.

 

Hier eigentlich könnte das Denken über eine systematische Gesundheitsprävention einsetzen. Sie beginnt bei der Hygiene, nimmt dann auch das Vorher zur Ausscheidung, nämlich eine adäquate Ernährung zur Gesundheitserhaltung ins Visier. Dazu gesellen sich genügend Bewegung und frische Luft, etc. Schliesslich mehr Musse, Körperbewusstsein, weniger Stress und weniger Abwehr von Infrage-Stellung durch die Mächtigen  – von Fall zu Fall. Erhalt und Pflege der psychischen Resistenz und Freiheit von Süchten und Zwängen. Ein unabhängiges, freiheitliches Leben und ein Sozialverhalten, das nicht allein durch Stereotypen und Manieren zur Markierung der feinen Unterschiede dient.

 

Dem Alltag auf der Spur, edition 8, Ueli Mäder und Andreas Schwald

Fr. 25.00, Euro: 21.80, ISBN: 978-3-85990-311-1, http://www.edition8.ch/buch/dem-alltag-auf-der-spur/

 

(PIV / 25.05.2017)