Als der Staatsschutz in den eidgenössischen Wahlen mitmischte

Paul Ignaz Vogel

 

Der bernische SP-Grossrat Arthur Villard war Militärdienstverweigerer und kämpfte für die Einführung eines Zivildienstes. Als er 1971 für den Nationalrat kandidierte, schaltete sich der Staatsschutz ein, observierte und fichierte sein Unterstützungsteam. Hier sind die Fakten von anno dazumal.

 

Laut meinen Staatsschutzakten meldete der Nachrichtendienst des Polizeikommandos Bern am 18. November 1971 an den Polizeidienst der Schweizerischen Bundesanwaltschaft BERN/Bundeshaus:

 

Nationalratskandidatur des Dienstverweigerers und Grossrats VILLARD Arthur, 4.10.1917, Lehrer in Biel

 

Im Vorgeplänkel der Nationalratswahlen zeigte sich, dass sich verschiedene Personen vehement und mit äusserstem Einsatz für den Bieler-Lehrer einsetzten. Dass sich diese Hilfsmannschaft vorwiegend aus Extremistenkreisen rekrutieren würde, war zu erwarten. Diese Helfer sind unserem Dienste daher zum Teil bereits bekannt. Zusammenfassend noch einmal ihre Namen:

 

Annen, Pierre, Gymnasiallehrer, Biel

Aerny Claire-Anette, Hausfrau, Kehrsatz/BE

Arnold Otto, Autokontrolleur, Biel

Charmillot Paul, Reisender, Biel

Daepp Heinz, Journalist, Burgdorf

Dürrenmatt Friedrich, Schriftsteller, Neuenburg

Eggimann Ernst, Lehrer, Langnau

Erard Marcel, PTT-Angestellter, Biel

Etienne Marlies, Hausfrau, Biel

Fasnacht Lucie, Biel

Frutiger-Vaucher Christine, Biel

Glas-Merazzi Marlies, Kindergärtnerin, Biel

Golowin Sergius, Schriftsteller, Matten

Gunzinger Charles-André, Lehrer Delémont

Hadorn Werner, Student/Lehrer, Biel

Hirsch Willy, Pfarrer, Rüfenacht

Keller Franz, Sek. Lehrer, Bern

Kern Hans, Baudirektor, Biel

Koch Hans-Peter, Pfarrer, Bern

Krummenacher Theodor, Pfarrer, Biel

Küenzi-Münch Verena, Strickerin, Köniz

Lehnherr Willy, KTD-Angestellter, Thun

Maeder Otto-August, Termineur, Biel

Marti Kurt, Pfarrer, Bern

Matthey Jean-Marc, Bauzeichner, Biel

Maurer Werner, Emailleur, Biel

Meyer Frank, Journalist, Biel

Meier Sylvie, Kunstmalerin, Biel

Montavon, Jean-Claude, lic.oec., Biel

Nicolet Marco, Geschäftsmann, Biel

Paulo-Flück Nelly, Büroangestellte, Biel

Petermann Antoine, PTT-Angestellter, Biel

Rickenbacher Elsa, Journalistin, Burgdorf

Röthlisberger Paul, alt Lehrer, Langnau

Schaffter Germain, Student, Colombier

Schneeberger Christian, Gymnasiast, Biel/Leubringen

Schöchlin Raul, Feinmechaniker, Biel

Schwander Marcel, Redaktor, Lausanne

Siegenthaler Edwin, Dreher, Biel

Sunier Charles-Fernand, Lehrer, Biel

Stähli Manuela, Lehrerin, Bern

Stähli Martin, Student, Bern

Stauffer Ernst, Chef-Decolleteur, Biel

Steiner Jörg, Schriftsteller, Biel

Thierstein Paul, Werbemann, Twann/BE

Villars Roland, Gymnasiallehrer, Biel

Villemin Rémy, Delémont

Vogel Paul-Ignaz, Publizist, Bern

Vollmer Peter, Student, Bern

Wettenschwiler Josef, Schlosser, Biel

Widmer Fitz, Gymnasiallehrer, Delémont

 

(Anmerkung PIV: Geburtsdaten weggelassen)

 

Die Gedanken sind frei

 

Im Herbst 1969 hatte Friedrich Dürrenmatt den Grossen Literaturpreis des Kantons Bern erhalten. Er leitete ihn vor vollem Stadttheater Bern weiter an Arthur Villard, Sergius Golowin und an mich. Das war eine besondere Provokation für die anwesenden Bürgersleute, für die Medien und für die schweizerische Öffentlichkeit. Die Nationalzeitung Basel publizierte nachher auch meine Stellungnahme, in der ich unter anderem festhielt:

 

„Doch was ist die Schweiz, und wer ist schweizerisch? Ehre wollte die angesehene Republik Friedrich Dürrenmatt geben. Ehre einem, dem Achtung gebührt, aber nicht von einem solchen Staat. Nicht von einem solchen Staat, der mit Steuergeldern Mord – Rufmord – organisiert, an unbescholtenen Bürgern, die so denken, wie man nicht denken soll. Aber wer bestimmt denn in einer Demokratie, wie man denken soll, die Regierung etwa?“

 

Ganz nebenbei: Ich hatte diese Zeilen 1971 geschrieben. Erst 24 Jahre später, im 1995, erhielt ich Einsicht in meine Staatsschutzakten. Einige Überlegungen drängen sich auf, um meine damalige Situation und die lange Zeit (ein Vierteljahrhundert!) zwischen der polizeilichen Registrierung und der nachträglichen Aufdeckung einigermassen richtig einzuschätzen und zu bewerten. Und wie ging es den anderen Unterzeichnenden des Wahlaufrufs von Villard? Alles Staatsfeinde? Auch Friedrich Dürrenmatt, angesehener Dramatiker von Weltrang? Er bezeichnete später - nach Ende des Kalten Krieges - die Schweiz als ein Gefängnis (Rede an Vaclav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweilers-Preises am 22. November 1990).

 

Totalitäre Staaten

 

Der Begriff Staat hat stets etwas mit den Begriffen Freiheit, Sicherheit und Entfaltung des Individuums auf der einen Seite, Totalität und totalem Machtanspruch gegenüber den Einzelnen auf der anderen Seite zu tun. Im ideellen Konzept des Sonnenstaates von Tommaso Campanella (erscheinen 1602) gibt es bereits ein gottähnliches Oberhaupt in weltlichen und religiösen Dingen, das für die egalitäre Gesellschaft denkt, beschliesst und lenkt. Die Übrigen gehorchen.

https://de.wikipedia.org/wiki/La_citt%C3%A0_del_Sole

Solche totalitäre Vorstellungen wurden im zwanzigsten Jahrhundert Wirklichkeit. Man erinnere sich nur an Hitler, Stalin, Mao, Pol Pot, Kim il-Sung und seine Dynastie. Auch die fürchterlichen Absichten und Praktiken des Islamischen Staates von heuten zeigen: Wer an die Perfektion und Vollendung einer Idee oder an eine sogenannte Offenbarung glaubt und diese in einem totalitären Staat verwirklicht, verneint das Lebensrechts jedes Einzelnen. Massenmorde sind die logischen Folgen. Der Mensch wird dem Staat angepasst, geopfert – ein Menschenopfer im Staatskult.

 

Demokratischer Staat als Regelwerk und Diener

 

Für Aufgeklärte ist der Staat ein Schutzgebilde für die Entfaltung der Individuen. Darum beansprucht er das gesetzlich geregelte Gewaltmonopol. Die Summe aller Menschen in einem Staat sollten - gemäss Rousseau - die Souveränität besitzen und in Wahlen und Abstimmungen durch das Mehrheitsprinzip die Zukunft bestimmen. Der Sozialstaat wird auch zum Diener an den Menschen. Er sorgt für ihre Wohlfahrt und kümmert sich um die Schwachen. Gleiche Chancen für alle ist das Prinzip. Somit wurde die Schweizerische Eidgenossenschaft erst seit 1971 mit der Einführung des Frauenstimmrechts formell eine Demokratie. Und trotzdem immer noch nicht ganz.

 

Undemokratischer Machtmissbrauch

 

Denn das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement hielt erst am 2.Mai 1996 in seinem Schlussbericht des Sonderbeauftragten für Staatsschutzakten fest: „Wer politische Rechte und Grundrechte ausübt, darf seit dem 16. Januar 1990 (vorläufige Negativliste) nicht mehr überwacht werden.“

 

Diese Feststellung in eigener Kompetenz – fernab der Bundesverfassung -  ist unerhört, vor allem wegen dem direkten schriftlichen Eingeständnis dessen, was vor dem 16. Januar 1990 zwar rechtswidrig, jedoch jahrzentelang ausgeübt wurde.  

 

Der  Staatsschutz war im Kalten Krieg Partei, verkörperte Willkür, schied in StaasbürgerInnen erster und zweiter Klasse: Die Privilegierten ohne Observation, die Freien – und die Ausgegrenzten, die Unfreien. Wir. Fast eine Million Menschen, Fichierte, Registrierte, von Polizei und Geheimdienst Nachverfolgte, Verfolgte, mit einem gebrochenen Lebenslauf.

 

Infos zu Arthur Villard:

 

https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-7-nicht-sichtbar/

 

http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D6724.php

 

Die Schweiz - ein Gefängnis. Rede von Friedrich Dürrenmatt an Vaclav Havel, Staatspräsident der tschechoslowakischen Republik:

 

http://www.juerg-buergi.ch/resources/Aktuell/Blog/Rede_Duerrenmatt.pdf

 

 

 

( © Paul Ignaz Vogel / 18.06. / 29.10. 2017 )