Vom volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen eines kantonalen Mindestlohnes

Paul Ignaz Vogel

 

Das Bundesgericht hat dem Kanton Neuenburg sein Recht zugesprochen, einen kantonalen Mindestlohn einzuführen. Dem steht die Praxis des Lohn- und Sozialhilfedumpings in der ganzen Schweiz gegenüber. Eine berechtigte und anspruchsbegründete Grundversorgung der untersten Gesellschaftsschichten in Armut wäre jedoch von volkswirtschaftlichem und gesellschaftlichem Nutzen.


Martin A. Steiner war ein working poor. Er lebte von Dumpinglöhnen und Sozialhilfe. Jetzt ist er pensioniert, bezieht die AHV und Ergänzungsleistungen. In seiner Alternativ-Zeitschrift „FrühzustellerIn“ Nr, 2a erinnert er sich an seine Erwerbszeit, an sein schmales Budget, das mit Zuwendungen der Sozialhilfe aufgebessert  wurde. Martin A. vertrug frühmorgens Zeitungen für die Presto AG, einen Tochterbetrieb der Schweizerischen Post AG, welche dem öffentlichen Dienst verpflichtet ist.

 

Lohndumping trotz öffentlichem Dienst

 

Wie der Gewinn in Grossbetrieben mit Lohndrückerei optimiert wird, rechnet Martin A. vor. Seit rund 15 Jahren hatte er bei der Presto AG gearbeitet. In den letzten 6 Jahren seiner Tätigkeit als Frühzusteller wurden die Löhne um durchschnittlich 30% gekürzt, „Macht also jährlich satte 5% Lohnkürzung“, stellt Martin A. fest. Und: „Wenn man die Reallohn-Kürzungen hochrechnet, kommt man auf eine Summe von 60 Mio. Franken.“ Am Beispiel Basel errechnet Martin A. noch höhere generelle Lohnkürzungen: „2010 satte 30% für Festangestellte, 2010-2015 ca. 1-3% willkürliche Kürzung, 2014 ca. 5% willkürliche Kürzung und 2,5% Kürzung des Feiertagslohn, macht ca. 40-50% Lohnkürzungen, rund 100 Millionen Franken.“ Das sind Schätzungen, denen es aber nicht an sozialer Wirklichkeit und dem nötigen Hintergrund für potenzielle Konflikte fehlt.

 

Solche Gewinnoptimierungen wie im Falle der Presto AG gehen weitgehend zu Lasten der Öffentlichkeit. Warum ist dies der Fall? Die Frühzustellung von Zeitungen ist ein Teilzeitjob, der von vielen working poor zusätzlich getätigt wird. Martin A. und die Presto AG sind keine Einzelfälle. Um die materielle Existenz zu sichern, muss für die BezügerInnen von Dumpinglöhnen die Sozialhilfe der Gemeinden zusätzlich einspringen und das berappen, was die Unternehmen an Gewinnen einstreichen. Die Sozialhilfe ihrerseits wird jedoch aus öffentlichen Geldern, den Steuern alimentiert.

 

Zweierlei Sozialhilfemissbrauch

 

Verschiedene Vorfälle von individuellem Sozialhifemissbrauch hatten für Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt. Ganz anders sieht es mit dem strukturellen Sozialhilfemissbrauch bei Lohndumping durch Unternehmen aus. Da herrscht eine enorme Toleranzmarge – und in der Öffentlichkeit Stillschweigen. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass Löhne gedrückt werden, auch wenn sie nicht existenzsichernd sind. Die Ideologie des neoliberalen Ökonomismus hat gesiegt. Gewinnoptimierung und die Buchhaltungen von Grossbetrieben bestimmen gesellschaftliches und politisches Denken, Werten und Analysieren.

 

Ueli Mäder und Hector Schmassmann schreiben in ihrer vom Denknetz publizierten Studie „Zur Dynamik der Erwerbsarbeit“: „Laut einer Gewerkschaftsstudie (Lampart 2011b) nehmen die Löhne im oberen Bereich der Lohnverteilung weiter zu. 400‘000 Werktätige verdienen weniger als 20 Franken pro Stunde beziehungsweise 4000 im Monat. Zu den Working Poor gehören in der Schweiz je nach Erhebungsart sechs bis zwölf Prozent der Arbeitnehmenden. Betroffen sind vor allem Einelternfamilien, kinderreiche Familien und Migrierte.“

 

Mindestlohn in der Eidgenossenschaft

In der Schweiz gibt es jedoch auch Gegenbewegungen aus der demokratischen Linken, welche dem Aufbau von sozialer Gerechtigkeit dienen. Die eidgenössische Volksinitiative zur Einführung eines im ganzen Lande geltenden Mindestlohnes (4‘000.- mtl., Fr. 22.- per h.) war ein erster Versuch, landesweit das Phänomen der working poor einzudämmen.

 

In der Abstimmungskampagne zur Volksinitiative für einen Mindestlohn  argumentierten die InitiantInnen so: „Tiefstlöhne drängen die Betroffenen in die Sozialhilfe. Denn wer Vollzeit arbeitet, aber von seinem Lohn nicht leben kann, braucht fremde Unterstützung. Der Staat und damit die Allgemeinheit müssen einspringen, weil einzelne Arbeitgeber Tieflöhne bezahlen. Für die Betroffenen, die tagtäglich hart arbeiten, ist es blanker Hohn. Gesetzliche Mindestlöhne sorgen dafür, dass alle selbstbestimmt von ihrer Arbeit leben können. Bei einer Annahme der MindestlohnInitiative käme es deshalb zu Einsparungen bei der Sozialhilfe von rund 100 Millionen Franken.“

 

Doch die Zeit war noch nicht reif, ein Umdenken hatte in breiten Bevölkerungsschichten noch nicht stattgefunden. In der Abstimmung des 12. Mai 2014 fallierte das Mindestlohn-Projekt auf eidgenössischer Ebene. Doch es war nicht aller Tage Abend.

 

Kanton Neuenburg als Pionier

 

Denn bereits vor diesem eidgenössischen Urnengang, am 28. November 2011 hatte der Neuenburger Souverän mit 54.6% dem Projekt eines kantonalen Mindestlohnes (Fr. 20.- pro h.) zugestimmt. Die Idee hatte die linke Gruppierung SolidaritéS vorgebracht. Gegen die Umsetzungsgesetzgebung für diesen Volksbeschluss reichten Unternehmerverbände und einzelne Unternehmen gegen Ende 2014 dem Bundesgericht eine Beschwerde ein, denn es war vorgesehen, das kantonale Mindestlohngesetz per Januar 2015 in Kraft treten zu lassen. 

 

Am 21. Juli 2017 beurteilte das Bundesgericht den Fall und hielt gemäss offizieller Medienmitteilung fest: „Das Bundesgericht weist die Beschwerden gegen die gesetzliche Festlegung eines minimalen Stundenlohns von 20 Franken im Kanton Neuenburg ab. Die sozialpolitisch motivierte Massnahme, mit der insbesondere dem Problem von "working poor" begegnet werden soll, ist mit dem verfassungsmässig garantierten Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit und mit dem Bundesrecht vereinbar. Die vom Neuenburger Grossen Rat beschlossene Regelung tritt mit dem vorliegenden Urteil des Bundesgerichts in Kraft.“ In der Medienmitteilung heisst es auch: „Aus der Neuenburger Regelung zum Minimallohn und den entsprechenden Vorbereitungsarbeiten ergibt sich, dass die Festlegung eines Mindestlohns der Bekämpfung der Armut, im Speziellen des Phänomens der "working poor" dient. Arbeitenden Personen soll ermöglicht werden, von einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit leben zu können, ohne auf Sozialhilfe angewiesen zu sein.“

 

Leben mit wenig Geld

Wie alle Menschen sind auch die working poor in das Korsett eines Budgets eingespannt. Einnahmen und Ausgaben sollten sich – auf extrem tiefem Niveau – irgendwie die Wage halten, damit keine Verschuldung eintritt. Die Einnahmen der working poor bestehen aus Lohnteilen von prekärerer Arbeit und gegebenenfalls aus einer ergänzenden Sozialhilfe, welche von den Gemeinden via Steuern aus Mitteln der Allgemeinheit erbracht wird.

Im Kanton Bern hatte sich die SVP schon früh auf die Armenjagd begeben. Sie  lancierte im Grossen Rat erfolgreich die Herabsetzung der Sozialhilfebezüge um 10%, entgegen den revidierten SKOS-Normen. Immer in der Vorstellung, die SozialhilfebezügerInnen würden so gedrängt, eine (nicht vorhandene) Arbeit anzunehmen. Sozialhilfedumping als Armenjagd - mit der Vorstellung, die Benachteiligten würden lieber faulenzen als arbeiten.

 

Auf der Einnahmenseiten der Menschen in einer ökonomisch prekären Situation soll also gespart und die Sozialhilfe abgebaut werden. Das betrifft vor allem die individuellen Bareinnahmen (Fürsorgeggelder). Auf der Ausgabenseite der Betroffenen stehen zusehends höhere Beiträge für Mieten und Krankenkassen zu Buche, wie der Bundesrat  in seinem Bericht zur Kostenentwicklung der Sozialhilfe vom 6. September 2017 festhält. Meist werden jedoch Mieten und Krankenkassenbeiträge für SozialhilfeempfängerInnen – stets steigend - vom Sozialamt direkt und bedingungslos bezahlt, denn es diktiert der Markt die Preise. Zwischen 2005 und 2015 sind demnach die Ausgaben für Leistungen der wirtschaftlichen Sozialhilfe von 1,7 auf 2,6 Milliarden Franken angestiegen. Diese bundesrätliche Analyse ist eine Antwort auf die Postulate der Sozialdemokratischen Fraktion und der aargauischen SP-Ständerätin Pascale Bruderer Wyss,

 

Weitere Kantone doppeln nach

 

Wie die Gewerkschaft Unia mitteilt, haben auch in den Kantonen Jura und Tessin die Stimmbevölkerungen die Einführung eines kantonalen Mindestlohns beschlossen. Die Projekte müssen noch vollendet und durch eine entsprechende Gesetzgebung umgesetzt werden.

 

Gutes zu berichten gibt es auch aus dem Kanton Bern. «Ich werde in Bern einen Vorstoss einreichen, der sich an der Neuenburger Lösung orientiert», sagt Grossrat Adrian Wüthrich, Präsident des Gewerkschaftsdachverbandes TravailSuisse im „Bund“ (9.08.2017). Und im „Bund“ des 11.08.2017 heisst es: „Grossrat Adrian Wüthrich (SP) will vom Regierungsrat wissen, wie viel Geld in der Sozialhilfe durch die Einführung eines Mindestlohns nach Neuenburger Vorbild eingespart werden könnte.“

 

Es ist klar, dass ein gesetzlicher Mindestlohn den Abschluss von gesamtarbeitsvertraglichen und brachenspezifischen Regelungen mit Löhnen befördern kann, die über dem gesetzlichen Minimum liegen. Die SozialpartnerInnenschaft wird damit belebt.

 

Gesamt-Nutzen sehen

 

Wer Sozialpolitik immer nur als Sparen erfasst, bloss buchhalterisch denken kann und diese Haltung als seine eigene rein restriktive Politik ohne Zukunft verkündet, läuft in die volkswirtschaftliche Sackgasse. Denn eine Grund-Versorgung der untersten Gesellschaftsschichten mit lebensnotwendigen Bareinnahmen würde Handel, Gewerbe und Industrie als Teil-Umsatzförderung nützen und schliesslich zum volkswirtschaftlichen Gesamt beitragen. Auch da gäbe es Wertschöpfung.

 

Doch solche Überlegungen sind heutzutage weitgehend verloren gegangen. Sparwut und Armenjagd sind „in“. Sie erscheinen hochgradig kurzfristig gedacht, mittel- bis langfristig kontraproduktiv und werden auf jene zurückfallen, welche sie durchsetzen. Das sollten mit der Zeit auch zukunftsorientierte und verantwortliche Kreise aus Gewerbe, Industrie und Handel merken. Ganz abgesehen vom Erhalt des sozialen Friedens, von dem alle in der Gesellschaft profitieren. Auch die Player in der Volkswirtschaft.

 

* * *

Die Zeitschrift „FrühzustellerIn“ 2a ist zum Preis von Fr. 5.- zu beziehen bei Martin A. Steiner, Efringerstrasse 1, 4057 Basel, Tel 077 410 22 86, theobald.tell@gmx.ch.

 

* * *

Siehe auch:

 

www.paul-ignaz-vogel.ch

 

https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-3-nicht-sichtbar-1/

 

(PIV, 24.09.2017)