Von Gerechten und der Staatsräson

Paul Ignaz Vogel

 

Auch demokratische Staaten folgen der Staatsräson, verhalten sich opportunistisch. Staatsdiener können aber auch ihrem eigenen Gewissen folgen und versuchen, gerecht zu sein. Ein Beispiel bietet der Schweizer Diplomat Carl Lutz, der in Budapest gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Abertausende von Jüdinnen und Juden vor dem sicheren Tod in Auschwitz rettete.

An einer Podiumsdiskussion im Käfigturm Bern erinnerte François Wisard vom Eidgenössischen Departement für Auswärtiges (EDA) an die Tätigkeiten des Diplomaten Carl Lutz (1895-1975). Mit seiner Frau Gertrud amtete Lutz 1935 - 1939 in Palästina für die konsularischen Dienste der Eidgenossenschaft. 1942 – 1945 wurde er in der Schweizer Botschaft in Budapest eingesetzt, wo ihm die Wahrung fremder Interessen (u.a. für Grossbritannien als palästinensische Mandatsmacht) oblag. Im Oktober 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht Ungarn. Es folgte die Deportation von rund 400‘000 Personen ins Vernichtungslager Auschwitz. Lutz half als Schweizer Diplomat mit Schutzbriefen, Kollektivpässen und Schutzhäusern den Verfolgten. 1964 wurde er dafür von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem geehrt. Später erhielt er die Medaille der Gerechten.

 

Gewiss hätte Lutz auch den desinteressierten Beamten spielen können, wie Wisard am Podium betonte. Lutz handelte jedoch jenseits der reinen bürokratischen Pflichterfüllung, er agierte aus Verantwortungsethik. Damit konnten schätzungsweise mehr als 60‘000 JüdInnen vor der Deportation und dem sicheren Tod gerettet werden. Wisard wies darauf hin, dass auch andere in Budapest vertretene Staaten, so zum Beispiel der Vatikan, in Schutzaktionen  tätig waren. Dass die offizielle Schweiz erst nach dem Sieg der Roten Armee bei Stalingrad einen internen Meinungsumschwung vollzog, mag mit Opportunismus zu tun haben, wie Simon Erlanger von der Universität Luzern in einem nachfolgenden Diskussionsbeitrag festhielt.

 

Frau Gertrud Lutz wurde später in gleicher Weise wie ihr Mann Carl Lutz geehrt. Helena Kanyar von der Universität Basel skizzierte am Podium im Käfigturm Bern kurz die Lebensgeschichte von Gertrud. Sie war an Hilfsaktionen beteiligt, 1935 heiratete sie Carl Lutz und lebte mit ihm in Palästina. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die Scheidung des Paares. Die neue Frau an der Seite von Carl beging nach dem ungarischen Volksaufstand von 1956 Selbstmord. Gertrud widmete sich weiterhin der internationalen Kinderhilfe als Vizepräsidentin der UNICEF. 

 

Offizielle antijüdische Innenpolitik

 

Simon Erlanger von der Universität Luzern analysierte darauf am Käfigturm-Podium in Bern die schweizerische Innenpolitik seit dem ersten Weltkrieg. Diese wurde von einer Abwehrhaltung gegen die jüdische Einwanderung aus Osteuropa geprägt. Das Stichwort war Kampf gegen die sogenannte Überfremdung. Die vom obersten Fremdenpolizisten der Eidgenossenschaft, von Heinrich Rothmund propagierte Fernhaltung von Asylsuchenden währen der nationalsozialistischen  Verfolgung entsprach dem gängigen antijüdischen Muster der offiziellen schweizerischen Innenpolitik. Rothmund sprach sogar von „Verjudung“, die der Schweiz drohe.

 

Indessen lebten in der schweizerischen Bevölkerung auch andere Kräfte, welche den Schutzsuchen Hilfe und Zuflucht gewähren wollten. Auf Gemeindeebene konnte diese wirksam werden. So gaben zum Beispiel einzelne Gemeindeämter leere Geburtsurkunden ab, welche von den Schutzsuchenden ausgefüllt werden konnten. Damit wurde die schweizerische Zentralregierung mit ihrer Fremdenpolizei herausgefordert. Diese war seit 1942 über den Holocaust informiert.

 

Nicht explizit erwähnte Erlanger die Tatsache, dass während  des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz ein Vollmachtenregime herrschte, womit damals nicht mehr von einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat ausgegangen werden konnte. Nur nebenbei wies er auf eine Gruppe von Offizieren hin, welche sich ab 1940 im Widerstand organisiert hatten und gegebenenfalls den autokratischen und nazifreundlichen Bundesrat hätte stürzen können. Diese Gruppe der Abwehr brachte es später im Kalten Krieg mit ihrer Geisteshaltung zu viel Einfluss in der Schweizer Armee. Und dürfte teilweise auch in der patriotischen Widerstandbewegung um die Geheimarmee P 26 und den Geheimdienst P 27 geendet haben.

 

AntikommunistInnen stets willkommen

 

Hannah Einhaus, die Diskussionsleiterin am Podiumsgespräch im Käfigturm Bern, fragte sodann Helena Kanyar von der Universität Basel, wie es antikommunistischen Flüchtlingen erging, die nach 1956 (Ungarnkrise) und nach 1968 (Sowjetbesetzung der Tschechoslowakei) in die Schweiz kamen. Kanyar, eine gebürtige Tschechin, war erst 1969 in unser Land geflohen. wo sie zuerst bürokratische Abweisung aus Routine erfuhr, weil die nicht zum Kontingent der Willkommenen gehörte. Als Verspätete fand sie jedoch bald spontane juristische Unterstützung, dann wurde ihr die Aufnahme gewährt. Die 1968 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz Geflüchteten hätten vollauf von einer offenen und spendablen Willkommenskultur  profitieren können, bestätigte Kanyar.

 

Am Podium blieb leider unerwähnt, dass 1956, während  der Suez-Krise im kriegsführenden Ägypten einen grosse Verfolgung von JüdInnen stattfand. Flüchtende wurde vom schweizerischen Bundesrat in alter Manier abgewiesen. Hannah Einhaus, Biografin von Georges Brunschvig, hat immer wieder auf diesen betrüblichen, aber für die schweizerische Asylpraxis typischen  Sachverhalt hingewiesen: https://www.swissjews.ch/site/assets/files/0/08/334/1__sas_ungarn.pdf

 

Das EDA präsentiert sich

 

Alt Botschafter François Nordmann vertrat am Podium im Käfigturm Bern die Ansicht, dass die Wahrung fremder Interessen durch die schweizerische Diplomatie eine grosse Bandbreite biete. Er erwähnte zwei weit auseinander liegende Beispiele. Die schweizerische Vertretung in Südafrika warnte noch während der Apartheid MitbürgerInnen vor den negativen Folgen der Rassendiskriminierung. Und nach dem Sturz von Allende und der Machtergreifung durch Pinochet wies die Schweizer Botschaft in Chile Hilfesuchende ab. Ein ethisches Verhalten wie es Carl Lutz gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Budapest zeigte, spiele auch bei DiplomatInnen eine bedeutende Rolle. Jacques Pitteloud, ehemaliger Geheimdienstkoordinator und heute Leiter der Ressourcen (Personalchef) im EDA, erinnerte an die Schrecknisse des Genozids in Ruanda, die er aus familiären Gründen hautnah miterleben musste. Und die für ihn, nach seinen Aussagen, bis heute prägend sind. Pitteloud sprach auch davon, wie wichtig es ist, sich an das Geschehene zu erinnern, Untaten nicht zu verschweigen, nicht zu verwedeln oder schön zu schreiben. Eine aufrichtige Verarbeitung von Geschehenem ist nötig, um eine Erinnerungskultur zu finden. Und diese ist Voraussetzung für die demokratische Auseinandersetzung.

 

Siehe auch:

 

Gedenkstätte für die Opfer schweizerischer Flüchtlingspolitik in Riehen bei Basel 

https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-10-nicht-sichtbar/

Schweizer Diplomat im Widerstand gegen Holocaust: 

https://www.arte.tv/de/videos/054775-013-A/vergissmeinnicht/

 

* * *

 

Zum Anlass

 

Aus Anlass des Schweizerischen Vorsitzes der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) war vom 31. Januar bis 10. Februar 2018 im Polit-Forum Käfigturm Bern eine Ausstellung den Diplomaten gewidmet, die im 2. Weltkrieg JüdInnen gerettet hatten. Darunter waren auch Schweizer wie Harald Feller, Carl Lutz, Ernest Prodolliet, Ernst Vonrufs und Peter Zürcher. Begleitet wurde die Ausstellung am 8. Februar 2018  von einer Veranstaltung, die sich mit dem Zwiespalt zwischen Vorschrift und Gewissen (BEYOND DUTY ) auseinandersetzte, in welche DiplomatInnen geraten können. Die Historiker Simon Erlanger (Uni Luzern), Helena Kanyar (Uni Basel) und François Wisard (EDA) beleuchteten in einer Podiumsdiskussion unter Leitung von Hannah Einhaus die Situation der Diplomaten in Budapest um Carl Lutz, das Schweigen der Behörden in Bern und die Zivilcourage von Frauen wie Gertrud Lutz und vom Engagement der Kinderhilfswerke. Diplomat Jacques Pitteloud berichtete über seine persönlichen Aktivitäten im Kongo.

 

Die Ausstellung BEYOND DUTY und die Forumsdiskussion waren die ersten Veranstaltungen unter der neuen TrägerInnenschaft des Polit-Forums Käfigturm Bern. Es wird nun unterstützt vom Kanton Bern, von der Gemeinde Bern, von der Burgergemeinde Bern und von den evangelisch-reformierten und römisch-katholischen Landeskirchen.

 

(13.02.2018)