Nie wieder – nachhaltige Aufklärung tut not

Paul Ignaz Vogel

 

Die Erinnerungskultur an die Schoa ist Teil des christlich-jüdischen Abendlandes. Welche Widersprüche können sich zu einer in Mode gekommenen Willkommenskultur ergeben? Wenn viele MigrantInnen - in ihren Herkunftsländern virulent antisemitisch sozialisiert - in unsere Gesellschaft eintreten? Und wenn zudem in Ostdeutschland (Ex-DDR) viele unbewältigte Altlasten aus der Nazizeit sichtbar werden? Überlegungen drängen sich auf.

                                                                                    

Der deutsche Lyriker Max Czollek wurde 1987 in Berlin geboren und promovierte von 2012 bis 2016 am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin sowie am Birkbeck College in London. In einem Interview mit einem schweizerischen Tageszeitungen-Verbund ( https://www.derbund.ch/18078320 ) sagte er:

 

„Den Juden in Deutschland fiel seit den Achtzigerjahren zunehmend die Rolle zu, kraft ihrer Existenz die Läuterung der Deutschen zu bestätigen. Der Soziologe Y. Michal Bodemann nennt dies Gedächtnistheater. Im Umkehrschluss bedeutet das Gedächtnistheater auch eine Entlastung. Heute kann man wieder guten Herzens Rassist sein, solange man nichts gegen die Juden sagt.“

 

Zuerst ein paar Fakten zur innenpolitischen Situation in Deutschland. Wir sollten nicht immer den tradierten Wunsch-Feindbildern   
(Politische Freunde hier, gut – politische Gegner dort, schlecht) folgen, mit denen wir unsere Welt eng zu erklären versuchen. Wichtig wäre, genauer hinzusehen, was tatsächlich geschehen war und gesagt wurde. Ich hatte den Wahlparteitag der CSU (Christlichsoziale Union) Bayern in seiner vollen Länge am Samstag, 15. September 2018 am Fernsehen live verfolgt. Eine Übung aus Sorgfaltspflicht, die sich lohnte. Der Parteitag war eine eindeutige offene Kampfansage an die neue Rechtspartei AfD (Alternative für Deutschland). Die beiden Macht-Männer Söder und Seehofer taten dies unmissverständlich. Sie grenzten sich gegen rechts ab und profilierten sich so selbst. Auch hier liegt der Autor Max Czollek falsch. Siehe https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-448461.html

 

Der amtierende Innenminister Deutschlands, Horst Seehofer sagte: „Bei uns gibt es Nullltoleranz gegen Antisemitismus, bei uns gibt es Nulltoleranz gegenüber Rechtsradikalität oder Rechtsextremismus, bei uns gibt es auch Nulltoleranz gegen Ausländerhetze und Ausländerhass. Unser Land ist ein liberales Land“.

 

Erinnerungskultur ist nötig und kein entleertes Ritual, kein Gedächtnistheater  nach dem Ende des christlichen Abendlandes durch die Schoa. Erinnerung an das Menschheitsverbrechen von Generation zu Generation müssen tradiert werden. Ist das „Ein mal eins“, das wir in der Schule lernen, auch ein entleertes Ritual? Auch die offizielle Schweiz bräuchte eine Erinnerungskultur. Sie hat sich durch die Kollaboration mit Hitlerdeutschland und durch die Abweisung von Hilfesuchenden mitschuldig gemacht.


Nationalsozialistische Altlasten aus der ehemaligen DDR

 

Die Geschichte wiederholt sich nicht in Deutschland, eben auch dank der Erinnerungskultur. In Westdeutschland hatten die Amerikaner mit der Entnazifizierung den Grundstein für eine aufgeklärte Gesellschaft gelegt. Es folgten in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die Frankfurter Auschwitzprozesse.

 

Anders in Ostdeutschland. Dort wurde nach 1945 in den Amtsstuben einfach das Hitlerbild zuerst in der Okkupationszeit durch das  Stalinbild, dann durch das Bild von Walter Ulbricht ersetzt. Die DDR-BürgerInnen lebten weitere 44 Jahre unter einem totalitären System – mit Folgen bis heute.

 

Dirk Teschner war Friedensaktivist in der DDR und schrieb in  der Oppositionszeitschrift telegraph 3/4 - 1998 zum Thema der totalitären Langzeiterfahrung (1933-1989) in der Gesellschaft im Osten Deutschlands:

 

„Im Jahre 1965 waren noch 53 Alt-Nazis Abgeordnete der Volkskammer, 12 Mitglieder und Kandidaten des ZK der SED, 2 Mitglieder des Staatsrates der DDR und 5 besaßen Landesministerposten. Etliche Alt-Nazis halfen beim Aufbau der „Volkspolizei“ und der NVA. In den Medien besaßen sie großen Einfluß. Sie bekleideten die Stellungen von Chefredakteuren und bildeten z.B. in den Redaktionen des „Neuen Deutschland“ und der „Deutschen Außenpolitik“ eigene Arbeitsgruppen. In all diesen „roten“ Institutionen ließen sich Nazis finden, dort gab es ehemalige SS-Mitglieder, SA-Führer, Vertrauensleute der Gestapo, Angehörige von Propagandakompanien, Mitarbeiter des NS-Rundfunks, des „Völkischen Beobachters“, des „Schwarzen Korps“, Beamte des Propagandaministeriums, Mitglieder des „SS-Rasse und Siedlungs-Hauptamtes“, Angehörige der „Legion Condor“.

 

In all den Jahren des 40jährigen Bestehens der DDR wurden die zuständigen DDR-Einrichtungen durch verschiedene Archive und Organisationen – vom Dokumentationszentrum des Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien bis zu dem Westberliner Verein „Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen“ – auf die Arbeit von Alt-Nazis in führenden Gremien der DDR hingewiesen. Es wurden regelmäßig Listen von belasteten Personen überreicht. Die Reaktion war immer gleich Null. Während Hinweise auf Nazis im eigenen Apparat ignoriert wurden, wurde zur Verfolgung und Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen in der BRD eine Extraabteilung geschaffen.“

 

http://telegraph.cc/archiv/telegraph-3-4-1998/faschistische-vergangenheit-in-der-ddr/

https://de.wikipedia.org/wiki/Telegraph_%28Zeitschrift%29

 

Stille Nachfolge im schwelendem Nazitum

 

Die wuchernde Präsenz der neuen rechtskonservativen Partei AfD (Alternative für Deutschland), die NPD, von  PEGIDA, der Völkischen und Neonazis kann als nachhaltige Folgen der Nazistrukturen in der Gesellschaft der einstigen kommunistischen DDR (Deutsche Demokratische Republik in Ostdeutschland) gesehen werden. Sozial Benachteiligte, die Abgehängten und VerliererInnen der Globalisierung sehen sich plötzlichen im eigenen Land mit dieser verhassten Globalisierung konfrontiert, wenn MigrantIinnen und Flüchtlinge Aufnahme finden. Dieser kurzfristige Begegnungs-Kulturkonflikt wird verstärkt durch die Tatsache, dass die oberste Chefin, Bundeskanzlerin Merkel (CDU) aus eben diesem ehemaligen DDR-Land stammt und als Aufgeklärte und den Menschenrechten Verpflichtete ganz Deutschland regiert. Auch sie wird leicht zur Hassfigur.

 

Die Bundestagsabgeordnete und Co-Fraktionschefin der Linken (einst SED) Sahra Wagenknecht hat diese Prozesse erkannt, als sie die neue, linke Parteien ansprechende Bewegung  „Aufstehen“ gründete. https://www.aufstehen.de/ . Diese ist genau für die gesellschaftspolitisch desolate Situation in Ostdeutschland, der einstigen DDR gedacht und versucht eine strukturierte Antwort auf die gefährliche Herausforderung durch die neue Rechte zu geben. Protest soll artikuliert werden.

 

Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates

 

Destruktiv sieht da ein anderes sogenannt linkes Projekt aus: Der Schwarze Block. Er operiert ausserhalb des Rechtsstaates und seines parlamentarischen Systems.

 

Mit gezielten und vollkommen willkürlichen Gewaltanwendungen gegen Sachen - und dies im Rahmen einer bestrafenden Selbstjustiz - strebt der international vernetzte Schwarze Block danach, den Staaten und seinen Sicherheitsorganen das Gewaltmonpol zerstörerisch streitig zu machen. Ideologisch tritt der Schwarze Block gerne als ANTIFA, als antifaschistische Bewegung auf. Seine Rollenabgrenzung zum erklärten Gegner, den rechten FaschistInnen, ist nicht immer klar. Who is who? Heute präsentiert sich der sogenannte Schwarze Block de facto als eine faschistische Organisation mit kommunistischer Ideologie. Passt gut ins Bild des Hitler-Stalin-Paktes und schlecht in die demokratische Gesellschaft Deutschlands von heute.

 

Im zerstörten Schanzenviertel Hamburgs führte der Schwarze Block anlässlich des G20-Gipfels anno 2017 als kombattante Truppe der terrorisierten Bevölkerung vor Augen, wie sie die Sicherheitsorgane des demokratischen Rechtsstaates ausser Kraft setzen konnten. Da wurde ein kapitaler Image-Verlust zugefügt. Szenen waren entstanden, die dem Wüten der nationalsozialistischen SA im vorigen Jahrhundert erschreckend glichen.

 

Thomas de Maizière von der CDU, dem 2017 sich noch im Amt befindlichen Innenminister Deutschlands blieben bei der Fahndung die Drahtzieher nicht verborgen. Er setzte die aus Freiburg i. Breisgau operierende Gruppe der Indymedia-Internetplattform ausser Kraft. Es folgte ein grenzüberschreitendes Verbot, das heute noch gilt. Indymedia wurde vorgeworfen, proaktiv an inszenierten bürgerkriegsähnlichen Tumulten und Bekennerschreiben – stets anonym – beteiligt gewesen zu sein.

 

Das wurde in Chemnitz 2018 nicht wiederholt, dank einer richtigen Einschätzung durch die Sicherheitsorgane. Der noch amtierende Staatsschutz-Präsident (Maassen) relativierte öffentlich ein kursierendes ANTIFA-Zeckenbiss-Video mit davon eilenden Personen; die Regierung (Merkel) liess sich beeindrucken. Was zur Diskussion über AusländerInnen-Hatz und zur Koalitionskrise in einer fragilen Situation führte. 

  

Von Indymedia wurden laut Wikipedia auch Verschwörungstheorien kolportiert. Die in Basel domizilierte „ Aktion Kinder des Holocaust“ (AKdH) hatte schon 2002 Indymedia Schweiz die Publikation einer antisemitischen Karikatur vorgeworfen. Wikipedia: „Im gleichen Jahr kritisierte Naomi Klein Indymedia für die Verbreitung von Verschwörungstheorien über Juden wie eine behauptete Beteiligung an den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und die Veröffentlichung von Auszügen des auf Fälschungen beruhenden antisemitischen Pamphlets Protokolle der Weisen von Zion.“

 

Wenn sich Extreme berühren

 

Linksautonome haben wie Rechtsradikale (mit Hitlergruss) einen gemeinsamen Feind: Den funktionierenden demokratischen Rechtsstaat mit seinen garantierten Freiheiten. Um ihn zu bekämpfen, dienen alle erdenklichen Mittel, begonnen von der gezielten Desinformation bis zu eigentlichen Agents provocateurs. Im Focus steht in erster Linie die verfassungsmässig garantierte Versammlungsfreiheit. Sie gilt es durch terrorähnliche Ausfälle ad absurdum zu führen. Den Rechtstaat zu immer mehr Einschränkungen der Freiheiten zu provozieren, damit ein umsturzreifer Polizeistaat entsteht. Krisen herbeiführen. Provokation der Sicherheitsorgane auf dem Versammlungsplatz durch Gewalttaten und personelle Unterwanderung derselben (de.indymedia.org unter Chemnitz: „Kritische Polizisten vs. Deutsche Polizeigewerkschaft“ von Pepe: 31.08.2018 – 17:18 / Cache).

 

Nach dem schrecklichen Totschlag eines Passanten in Chemnitz in aller Öffentlichkeit - offenbar durch Asylbewerber - war das rechtsextreme Gewaltpotenzial in der Öffentlichkeit gross. Trauer und Empörung schienen primär angebracht. Es folgte sofort die Instrumentalisierung von menschlichen Gefühlen durch Parteien am rechten, am rechtsextremen Rand, die Hatz auf MigrantInnen. Eine verheerende Sogwirkung setzte ein. Der Rest ist bekannt. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/anschlaege-geplant-vier-mutmassliche-rechtsterroristen-werden-richter-vorgefuehrt-15817406.html

 

Kräfte der Demokratie in Deutschland

 

Doch die Attacken auf den freiheitlichen Rechtsstaat setzten sich letzten Endes in Chemnitz nicht durch. Auch dank der Basisbewegung „wir sind mehr“, die rund 65‘000 Menschen zum Rock-Konzert vor Ort mobilisierte und vom Bundespräsidenten mit organisiert wurde. Die Gegenkräfte sind heute in Deutschland solide verankert. Dazu kommt auch die Aktion „Deutschland spricht“, das Bemühen, die durch Digitalismus verlorene persönliche Streitkultur wieder zurück zu gewinnen.

 

https://www.tagesschau.de/inland/deutschland-spricht-berlin-101.html

https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_84500816/aktion-deutschland-spricht-tausende-reden-miteinander-statt-uebereinander.html

 

Beim Versuch der Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Problemfelder in Deutschland darf zudem nicht übersehen werden, dass mit der Migrationswelle ein Potenzial an virulentem Antisemitismus aus den muslimischen Ländern nach Deutschland importiert wurde - nebst dem IS-Terrorismus. Davon ist allgemein wenig die Rede. Warum denn? Angst etwa vor dem Islamischen Staat (IS)? Was ist Tabu?

 

Ich bewundere die aktuelle politische Leistung Deutschlands. Schwierig, äusserst schwierig ist die Situation, und turbulent dazu. Demokratisch wurde das Parlament gewählt, wozu auch VertreterInnen von Linksaussen und Rechtsaussen, der Linken und der AfD gehören. Demokratie heisst, mit Meinungsverschiedenheiten offen gesellschaftliche Konflikte austragen. Nach dem Mehrheitsprinzip. Koalitionen haben es da sehr schwer.

 

Streitkultur ist das Mass aller Dinge, nicht Leitkultur. Die Freiheit der Menschenrechte aller verwirklicht sich - ohne Ausgrenzung von der Teilnahme - im demokratischen Prozess des Meinungsstreites. Das ist Integration. Ein Paradoxon? Das Kind sei nicht mit dem Bade ausgeschüttet.

 

Der deutsche Lyriker Czollek gehört zur jungen Generation in Deutschland. https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Czollek

Im oben erwähnten Interview sagt er auch: „Die Übergriffe auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz zeigen aber, dass sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nicht zu sicher fühlen sollte. Die Geschichte lehrt uns, dass diese Art von Sicherheit trügerisch ist.“

 

Daher nochmals: Nie wieder!
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Neuerscheinung zum Thema:

Geigen im Schnee

 

Zwei Wege des Gedenkens an die Schoa

 

Das Buch ist ein mehrteiliges Bild-Foto-Text-Buch zweier Schwestern über die Nachwirkung der nationalsozialistischen Judenverfolgung auf die Gegenwart. Die tabuisierte Verlust- und Vertreibungsgeschichte ihrer Mutter, die als "Glückskind" mit ihren Eltern noch rechtzeitig aus Deutschland fliehen kann, steht im Zentrum.

 

Eve Stockhammer und Iris Ritzmann nähern sich dieser verborgenen Geschichte mit Bildern, Texten und Fotoalben. Porträts und Kurzbiografien von in der Schweiz lebenden Schoa-Überlebenden geben weiteren Einzelschicksalen Resonanz- und der Nachwelt Reflexionsraum. Einen erklärenden Rahmen schafft der Prolog der Autorin und Publizistin Katarina Holländer.

 

Das Buch „Geigen im Schnee“ erhielt den Preis 2018 der Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft der Schweiz, Sektion Bern.

 

ISBN: 978-3-03878-013-7

Edition Till Schaap, 2018

Keltenstrasse 96

CH-3018 Bern

Tel. +41 (0) 31 382 40 00

info@tillschaapedition.ch

 

(PIV, 28.09. / 02.10. 2018)