Bis heute nachhaltige 1968er-Bewegungen

Paul Ignaz Vogel

 

In seinem Werk « 68 – was bleibt » stellt der emeritierte Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder rund einhundert Porträts von ZeitgenossInnen vor, welche das Jahr 1968 mit erlebten und die Zukunft gestalteten. 1968 war ein Jahr des Aufbruchs zum gesellschaftlichen Wandel, den Mäder soziologisch analysiert.

 

Das Buch wird so zu einem Kompendium „Einhundert mal 1968“. Mäder geht bei seinen Analysen von vier Annahmen aus: 1) Der von Utopien gespiesene Aufbruch reagierte auf autoritäre Strukturen. 2) Er brach autoritäre Traditionen auf und demokratisierte gesellschaftliche Einrichtungen. 3) Die 68-er-Bewegung schwächte sich selbst durch ideologische Verhärtungen. Folgeprojekte und schon damals engagierte Personen tragen jedoch bis heute zur Wirksamkeit der 68-Ideen bei. 4) Heutige Jugendliche werden von pluralistischen Sozialstrukturen geprägt. Sie orientieren sich an politischen Identitäten, die Widersprüche zulassen und neue soziale Verbindlichkeiten suchen.  

 

Zeit für internationale Veränderungen

 

Die Zeit um 1968 war eine Phase der weltweit wirksamen Verschiebungen und grossen Umbrüche. In seinem Buch gibt Mäder einige Stichworte: Die Rassendiskriminierung in den USA, der Vietnamkrieg, die Mondlandung, die Okkupation der CSSR durch die Warschaupakt-Truppen im August 1968, die Kulturrevolution in China, der gewaltsame Tod von Che Guevara, der Sechstagekrieg in Palästina, das El-Al-Attentat in Zürich, der Terror gegen die Swissair in Würenlingen mit 47 ungesühnten Toten, dann die Pariser Unruhen im März 1968 und der Wahlgewinn von De Gaulle.

 

In der Bundesrepublik erweist sich die 68er-Bewegung auch als Kritik an den Untaten der Väter mit ihrer Nazi-Vergangenheit. 1963 hatte der erste Auschwitzprozess in Frankfurt a. Main begonnen und erhellte das Unrechtsbewusstsein in der Gesellschaft. Die Konflikte mit den Sicherheitsbehörden, oft noch ganz in der Hand von ehemaligen Nazis, spitzten sich mit dem Besuch des Schahs von Persien zu. Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Stasi-Spitzel, dann das Attentat auf Rudi Dutschke vom SDS, schliesslich die Ohrfeige, die Bundeskanzler und ehemaliges NSDAP-Mitglied Kurt Georg Kiesinger von Beate Klarsfeld erhielt, alle diese Fakten gehören ins tragische Umfeld neudeutscher Politik.

 

Bewegungen in der Schweiz

 

Mäder beschreibt sodann das Teach-In auf dem Petersplatz Basel, das am 28. Juni 1968 vor den Toren des Kollegialgebäudes der Alma mater Basiliensis stattfand, erinnert an verschiedene Gruppierungen. An die POB, die Hydra, an Longo Mai, an die Anti-AKW-Bewegung Kaiseraugst, an Alfred Rassers „Soldat Läppli“, an Hotcha, die Rolling-Stones mit ihrem Konzert, die Globus-Krawalle in Zürich, an FASS, an die GSoA. An den in Bern von Sergius Golowin gegründete Diskussionskeller „Junkere 37“, das  Forum Politicum, die Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) mit Arthur Villard, den jurassischen Separatismus, die Genossenschaftsbeiz „Kreuz“ in Solothurn, die Solothurner Filmtage, die kantonalen und gesamtschweizerischen Frauenstimmrechtsbewegungen, das Salecina-Begegnungszentrum im Bündnerland, das Kritische Oberwallis, das Partito socialisto autonomo (PSA) im Tessin usw., usf.. Nicht zu vergessen wäre auch die pazifistische Anti-Atombewegung, die schon vor der 68er-Bewegung aktiv geworden war.

Kriterien der Verhaltensweisen

 

Im Kapitel zu den biografischen Notizen versucht Mäder, unterschiedliche Ausprägungen des Verhaltens von porträtierten Personen der 68er-Bewegung aufzulisten. Denn biografische Notizen, so Mäder, „reduzieren Personen auf ausgewählte Merkmale“. Und: „Das soll weitere 68er-Konturen und über die Vielfalt sowohl Trennendes als auch Verbindendes erhellen. Elisabeth Joris plädiert dafür, Widersprüche zuzulassen. Etliche 68er/innen wollten diese gänzlich ausräumen.“

 

Aus der Sicht von Mäder ergibt sich folgende Bandbreite von möglichen gesellschaftlichen Verhaltenskriterien: Soziale Herkunft, Motivation, Haltung und Engagement, Brüche, Kontinuität und Wandel, berufliche Ambitionen, soziale Ungleichheit, Gewöhnlich-aussergewöhnlich, Selbstreflexion, Widersprüche zulassen, arriviert / resigniert / zornig.

Grosse gesellschaftliche Fragen

 

Im Kapitel „Projekte und Debatten“ versucht Mäder, einen nachhaltigen gesellschaftlichen Output der 68er-Bewegung zu orten und zusammenzufassen: „68er-Debatten fokussierten grosse politische Fragen. So etwa den Gegensatz zwischen einem imperialistischen und einem sozialistischen Staatensystem. Sie bezogen sich aber auch auf konkrete Lebensbereiche. 68er-Bewegungen plädierten dafür, gesellschaftliche Strukturen zu demokratisieren und die Wirtschaft zu sozialisieren. Sie initiierten Kinderläden, Quartierzentren, Tauschbörsen."

 

Quellen der zukunftsorientierten Entwicklungen waren die Kreativität, die Solidarität mit der 3. Welt, die Frauenbewegung und die Gendergleichheit, die Friedens- und Anti-Atombewegung, die Selbstverwaltungs- und Genossenschaftsidee, die antiautoritäre Erziehung, die Kunst in all ihren Facetten (Musik, Film Foto, Literatur), die Medien, die Menschenrechte und das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, die demokratische Psychiatrie, das Denknetz und politische Kleinparteien wie POCH, RML, SAP etc..

 

Ein Beispiel für ein innovatives Verhalten in der 68er-Bewegung sei hier erwähnt: Als Radiomann berichtete Otmar Hersche für das Schweizer Radio über die Entwicklungen im Marxismus und auch über die 68er-Bewegungen. Er sendete Gespräche mit Vertretern der Kritischen Theorie, so etwa mit Adorno und Horkheimer. Auch waren Mitarbeitende der jugoslawischen Zeitschrift „Praxis“ und der politische Philosoph Arnold Künzli im Schweizer Radio zu Gast. Das Studio wurde so zu einem Begegnungsort der intellektuellen Auseinandersetzung, des Ausgleichs zwischen Ost und West im Kalten Krieg.


Theorie und Praxis

 

Zum Schluss seines Buches wendet sich Mäder den theoretischen Bezügen für die 68er-Bewegung zu. Er sieht diese in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, bei den Denkern Ernst Bloch, Henri Lefèbvre und bei Arnold Künzli.

 

Was bleibt aber in der Praxis? Es sind dies widerständige Energien, Konkrete Utopien und soziale Verbindlichkeit. Diese tritt zum Beispiel dann ein, wenn eine fachlich geschulte Person Randständigen zu einem Symbolpreis die Haare schneidet – so die Menschenwürde im Einzelfall pflegt, anstatt theoretische Diskurse zu führen.

 

Die Mächtigen

 

Und was ist mit den GegenspielerInnen der damaligen Zeit? Drei von Mäder in seinem Buch indirekt erwähnte Personen gehören in dieses Betrachtungsfeld: Edgar Bonjour, Albert Bachmann und Ludwig von Moos. Es sind sehr typische Vertreter der damaligen Macht-Inhaber in der Schweiz.

 

Professor Bonjour war Ordinarius für Schweizer Geschichte an der Universität Basel und Verfasser des mehrbändigen Standardwerkes „Geschichte der Schweizerischen Neutralität“. Er führte während des Kalten Krieges offensichtlich an der Universität Basel eine Residentur des schweizerischen Geheimdienstes und zögerte nicht, seine eigenen Studenten bei den Sicherheitsorganen zu denunzieren. Nach Stasi-DDR-Manier. So geschehen auch mit mir, Paul Ignaz Vogel, was Mäder in seinem Buch nachweist.

 

Dann wäre auch Albert Bachmann zu nennen. Früher war er Stalinist, bei der kommunistischen Jugend eingeschrieben. Wechselte dann die Fronten und verfasste das antikommunistische „Zivilverteidigungsbuch“, das ohne gesetzgeberisches Mandat 1969 vom Vorsteher des EJPD, Bundesrat Ludwig von Moos im Auftrag des Bundesrates an alle Haushaltungen der Schweiz abgegeben wurde, mit dem Zweck, die Gesellschaft weiter zu militarisieren und den inneren Feind aufzuspüren. Geistige Landesverteidigung bedeutete psychologische Kriegsführung und Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung.

 

Erwähnenswert ist zudem, dass Ludwig von Moos in seiner Jugendzeit als Redaktor krass antisemitische Artikel in seinem Obwaldner Volksfreund veröffentlicht hatte. Diesen Sachverhalt publizierte die Zeitschrift Neutralität Ende 1969.

 

Der Kalte Krieg war ein Krieg - in der Schweiz auch ein psychologischer Krieg mit zwei Lagern. Wie bei jedem Krieg stellt sich nach dem Ende der Auseinandersetzung für beide Konfliktparteien die Frage, wer Gewinner und wer Verlierer ist. Mir scheint, dass die Ideen und RepräsentantInnen der 68er-Bewegung diesen Kampf bis heute nicht verloren haben. Ein David-Goliath-Moment bleibt.

 

Ueli Mäder, 68 – was bleibt?

Fotos von Claude Giger

ISBN 978-3-85869-774-5,

Rotpunktverlag Zürich, 2018

(PIV, 28.06.2018)