Schweiz: Rassistische Asylpolitik vor und während des Zweiten Weltkrieges

Das Buch „Nie geht es um Vergangenheit“  berichtet facettenreich über die dramatische Situation an der Grenze zwischen dem Schweizer Kanton Basel-Stadt und Deutschland. Schweizer SicherheitsbeamtInnen wurden zu Häschern für die nationalsozialistische Rassenpolitik. Anpassung war offizielle Staatsdoktrin. Mutige und Gerechte handelten, versteckten und halfen weiter.

 

Paul Ignaz Vogel

 

Die Schweiz grenzt in einem Dreiländereck bei Basel an Frankreich und an Deutschland. Jenseits der Grenze zu Südbaden liegt die deutsche Stadt Lörrach. Auf ihrer Website lesen wir heute: „Die Gedenktafel mit siebenarmigem Leuchter in der Synagogengasse zwischen Teichstraße und Neuer Marktplatz erinnert an die ehemalige Synagoge. In der Reichspogromnacht. 1938 wurde dieser jüdische Ort schwer beschädigt und schließlich 1939 abgebrochen.“ 

 

Die von den Nationalsozialisten organisierte Reichsprogromnacht mit der systematischen Schändung,  Zerstörung von jüdischer Einrichtungen und von Synagogen fand in Deutschland am 9. November 1938 statt. Sie bildete den Auftakt zur ungehinderten Verfolgung von jüdischen ReichsbürgerInnen bis zu deren systematischen Ermordung mit anderen Bevölkerungsgruppen in der Schoa.

 

Grenzwachtkorps Basel orientierte deutsche Gestapo

 

Nur vierzehn Tage nach der Reichsprogromnacht, am 23.November 1938, kam es zu einem  Zwischenfall an der deutsch-schweizerischen Grenze bei Riehen, dem schweizerischen Grenzort gegenüber der deutschen Stadt Lörrach. 

 

So lesen wir in einem Protokoll der Kantonspolizei Basel-Stadt: „Um 21:30 Uhr waren im Polizeiposten Riehen 2 Juden und eine Jüdin und im Zollamt Riehen noch weitere 10 jüdische Personen, wovon die Hälfte weiblich, welche alle schwarz über die Grenze gekommen.“ Die Geflüchteten wurden allesamt von den Schweizer Behörden wieder an die deutsche Grenze gebracht und den dortigen Behörden übergeben. Natürlich auch mit dem nötigen schweizerischen Perfektionswahn: „Herr Leutnant Straub (vom Zoll) hatte vorgängig die Gestapo telefonisch vom an die Grenze stellen der Juden avisiert, welche ihrerseits die Meldung  an das deutsche Zollamt weitergaben. Einer der Juden weigerte sich, wieder über die Grenze zu gehen und musste getragen werden. Ein zweiter Jude flüchtete sich, wurde jedoch durch einen Schweizer Grenzwächter eingeholt und musste bis zur Grenze durch Tragen transportiert werden.“ (Zitat aus „Nie geht es nur um Vergangenheit“, S. 308 ff.).

 

Aus den publizierten Protokollen zu den Judenverfolgungen an der Schweizer Grenze wird sehr gut ersichtlich, wie die schweizerische Behördenstruktur vor und während des Zweiten Weltkrieges funktionierte. Die kantonale Polizeihoheit von Basel-Stadt unter Regierungsrat und Polizeidirektor Fritz Brechbühl (SP) wurde pro forma gewahrt, jedoch faktisch stets umgangen. Und zwar durch zwei viel mächtigere gesamtschweizerische Organisationen: 

 

Erstens durch das dem eidgenössischen Finanzdepartement (Zoll) unterstellte Schweizerische Grenzwachtkorps, das bereits offenbar bereits 1938 ususgemäss mit der Gestapo in Grenzwachtfragen zusammen zu arbeiten pflegte. 

 

Zweitens durch den militärischen Sperrbezirk, der zeitweise hautnah um die Schweizer Grenze gezogen worden war. Die Armee beaufsichtigte somit die Basler Kantonspolizei und belieferte diese mit abgefangenen Flüchtlingen aus Deutschland, die wieder an die deutsche Grenze zu stellen waren. Um genügend Zeichen zu setzen, bewachten in jener Spannungszeit stets Schweizer Soldaten den Basler Polizeiposten Riehen. Eine wirkungsvolle innenpolitische Drohkulisse zu Handen des oft renitenten Basler Regierungsrates, der damals links stand. 

 

Kompetenzen und Willkür an der Grenze

 

Ab Kriegsausbruch 1939 herrschte zudem das eidgenössische Vollmachtenregime, ein bundesrätliches Notstandssystem. Die Exekutive des Zentralstaates konnte faktisch ohne jede Kontrolle regieren und musste nur halbjährlich dem Parlament Bericht erstatten. Dazu heisst es im Historischen Lexikon der Schweiz: „Der Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität vom 30.8.1939 übertrug dem Bundesrat ausserordentliche, normalerweise nur dem Parlament zustehende Befugnisse … Er bildete gewissermassen eine Verfassung neben der Verfassung, die für Demokratie und Rechtsstaat eine grosse Gefahr darstellte. Angesichts der existenziellen Bedrohung wurde das aber in Kauf genommen.“ 

 

In Flüchtlingsfragen hatten die Schweizer Behörden vor und während des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeit für verschiedene und mehrstufige Vorgehensweisen:

 

1 Unmittelbare Übergabe der illegal Eingereisten an deutsche Behörden (Gestapo, SS), was faktisch das sichere Todesurteil bedeutete. Kein Rechtsverfahren, keine Überprüfung, kurzer Prozess.

 

2 Überstellung in deutsches Hoheitsgebiet an einem Grenzabschnitt ohne momentane deutsche Überwachung. Laufen lassen in die weitere Verfolgung im deutschen Hoheitsgebiet. Bis zur vollkommenen Abdichtung der Schweizer Grenze im Norden Basels gegen Ende des Jahres 1942 (nach Beschluss der sogenannten „Endlösung“) verjagten hin und wieder auch die Gestapo oder die SS im Zuge ihrer Beraubungspolitik jüdische Flüchtende aus dem Reich in die Schweiz – ebenfalls über die grüne Grenze. 

3 Die Wirkung des im Herbst 1938 eingeführten J-Stempels in Pässen von deutschen ReichsbürgerInnen wird von WIKIPEDIA so beschrieben: „Die Schweiz wollte jedoch nur dann reichsangehörigen Juden, deren Pass mit dem erwähnten Merkmal versehen ist, die Einreise in die Schweiz gestatten, wenn die zuständige schweizerische Vertretung in den Pass eine Zusicherung der Bewilligung zum Aufenthalt in der Schweiz oder zur Durchreise durch die Schweiz eingetragen hat.“ Sie hat deutsche Juden im Regelfall nicht als politische Flüchtlinge aufgenommen und gefährdeten Juden die Einreise in die Schweiz ohne vorherige spezielle Antragstellung und Bewilligung verwehrt.“ 

4 Temporäre Aufnahme in der Schweiz und Registrierung. Aufforderung zur Weiterreise. Wenn nicht möglich eventuell wieder Ausschaffung nach Deutschland und Hinführen zum sicheren Tod.

 

5 Wegsehen bei der Flucht an der Grenze. Oder aktives Handeln durch Behördenmitglieder in Opposition zur offiziellen Linie (zum Beispiel Polizeihauptmann Paul Grüninger aus St. Gallen) und  durch private HelferInnen. Flucht aus Deutschland via Schweiz, dann Flucht  aus dem bedrohten Europa (nach Übersee etc.). Ziemlich riskanter Weg. Es gab auch Gerechte in der Schweiz. 

 

NS-Rassenpolitik 

 

Stefan Keller schreibt im Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit„ (S. 39) zur systematischen Schweizer Abweisungspolitik: „Die neutrale Schweizer Regierung hatte im August 1942 ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge geschlossen und erklärt, Juden seien politische nicht verfolgt, ein Asyl komme für sie nicht in Frage.“ Diese rein rassistischen Argumentation der Schweizer Regierung folgte dem Rhythmus der NS-Rassenpolitik: „Immer dann, wenn im Deutschen Reich oder in den besetzten Ländern neue antisemitische Massnahmen ergriffen wurden …verschärfte die Schweiz ihre Asylbestimmungen“ (ebenda.).

 

Ein Beispiel für die Übernahme nationalsozialistischer Rassimus-Muster durch schweizerischen Asylbehörden erbringt bereits die Fremdenpolizei-Akte 29496 von Kurt Preuss, über die im Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit“ (Seiten 295 ff) berichtet wird. Am 8. Juni 1938 hatten Gertrud Lüttich und ihr Geliebter Kurt Preuss bei Lörrach die Schweizer Grenze überschritten. Von Basel aus fuhren sie mit dem Zug nach Genf. Dort eröffnete ihnen die „Police des étrangers“, sie wären wegen Mittellosigkeit und Überfremdung in der Schweiz unerwünscht. In Basel dieselbe Ablehnung durch die Behörden. Noch vor Einführung des J-Stempels auf deutschen Pässen wurde das Dossier von Preuss mit einem „J“ abgestempelt, das „J“ auf den Akten von Lüttich später mit einer Rasierklinge weggeschabt.

 

Die Eidgenössische Fremdenpolizei untersagte dem Liebespaar schliesslich einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz. Zu Preuss hiess es in der Akte: „Jüdischer Flüchtling aus Deutschland geflüchtet, schriften- und mittellos.“ Und Gertrud Lüttich wurde so apostrophiert: „Ist wegen Rassenschande mit dem Juden Kurt Preuss aus Deutschland geflüchtet.“ Nach mehrmaligem Hin und Herr  übergaben die Schweizer Behörden Preuss am 5. März 1939 den deutschen Häschern. Am 19. Juli 1941 starb er im Konzentrationslager Gross-Rosen. Gertrud Lüttich meldete sich nochmals aus Berlin, dann verlor sich ihre Spur.

 

Vorstationen zur Hölle

 

Im Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit“ publiziert auf Seite 140 ff Dan Shambicco ein Gespräch mit Heinz Müller. Dieser gehörte zu einer jüdischen Familie, die aus Rumänien stammend, als Staatenlose von Österreich Ende Dezember 1938 in die Schweiz geflüchtet war. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger fälschte zu ihren Gunsten Einreisedaten, so dass die Flüchtlinge vorübergehend in der Schweiz aufgenommen werden konnten. Sie kam in das Flüchtlingslager des Sommercasinos Basel, wo der Vater von Heinz Müller eine Stelle  als Koch fand. Dieses Sommercasino mit dem angrenzenden kleinen Park hatte es an sich. Es war ein äusserst gefährdeter, gefährlicher Ort. Er lag nämlich in unmittelbarer Nähe eines Gleisanschlusses beim damaligen Eilgut / Frachtgutbahnhof Basel SBB mit Gleisanschlüssen für den Güterverkehr an der Nauenstrasse. 

 

Am 19. Juni 1939 wurde ich in Riehen bei Basel geboren. Meine Eltern zogen 1940 in das Basler Gundeldingerquartier, wo ich aufwuchs. Hier wohnten  Arbeiterfamilien, Angehörige aus unter Chargen von SBB und Post. Das „Gundeli“, wie wir es nannten, lag direkt jenseits des Sommercasinos, südlich des Vorbahnhofes Basel SBB. Ich erinnere mich noch gut an Quartiergespräche. Es hiess nach dem Krieg, nach einem Einmarsch der Naziarmeen wären auf dem Rasen neben dem Sommercasino alle Juden und Jüdinnen der Stadt Basel auf dem Appellplatz  versammelt worden. Von dort aus hätten sie dann die Fahrt in die Deportation, in die Vernichtung durch den Holocaust antreten müssen - zu den „Ferien am Waldsee“, wie Carl Laszlo (2013 in Basel verstorben) es nannte. Das Sommercasino war somit während der Kriegsjahre 1939-1945 eine Vorstation zur Hölle – auf eventuellen  Abruf durch die Okkupanten, die Nazis aus Deutschland.

Die aus Ungarn stammende Familie von Carl Laszlo wurde von den Nazis ermordet, er selbst überlebte den Aufenthalt in mehreren KZs (Auschwitz u.a.), wurde Psychoanalytiker, Kunsthändler und Kunstförderer, betrieb auch eine Zeitschrift, Panderma genannt, und führte mit zahlreichen Manifesten eine entsprechenden Kunstszene an, der ich als Jugendlicher in Basel zeitweise auch angehörte. „Seine KZ-Erinnerungen sind unter dem düster ironischen Titel Ferien am Waldsee publiziert, seine Jugenderinnerungen unter dem Titel: Der Weg nach Auschwitz“, stellt WIKIPEDIA fest. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Laszlo

 

Braune Provokationen im schutzlosen Basel

 

Am 29. August 1897 fand im Basler Stadtcasino der 1. Zionistenkongress statt. Dort wurde das «Basler Programm» von Theodor Herzl formuliert. Es sah die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für diejenigen Juden vor, die sich nicht anderswo assimilieren konnten oder wollten.   

Welch eine Provokation durch die Schweizer Nazis: Im Stadtcasino Basel, und eben demselben Grossen Musiksaal, in dem die FreundInnen von Theodor Herzl getagt hatten, feierten am 30. Januar 1942 rund eintausend NationalsozialistInnen aus der Basel den 9. Jahrestag der Machtergreifung durch Adolf Hitler im Deutschen Reich. Die „Deutsche Zeitung in der Schweiz“ schrieb siegesgewiss: „Die deutsche Front im Osten hält!“. Erst ein Jahr später sollte sich das Blatt in Stalingrad wenden.  

 

Indessen blieb die Stadt Basel ohne nennenswerten militärischen Schutz der Schweizer Armee. Das Gros hatte sich ins sichere Alpenréduit zurückgezogen und begnügte sich unter anderem damit, die Grenze zu Deutschland in der Region Basel mit Detachementen und einem Sperrbezirk zu sichern, um Flüchtende von der Schweiz fernzuhalten und unsere rassistische Asylpolitik zu gewährleisten. Die Website des baselstädtischen Gemeinde Riehen zitiert aus "Fast täglich kamen Flüchtlinge" (Lukrezia Seiler und Jean-Claude Wacker, Merian Verlag, 2014, Seiten 9-10): „Bewohnerinnen und Bewohner der Sperrzonen und des Dorfes Bettingen wurden häufig mit Flüchtlingen konfrontiert. Sie begegneten gehetzten Menschen, die in ihren Häusern Hilfe suchten. Und sie mussten mit ansehen, wie viele dieser Flüchtlinge wieder über die Grenze zurückgestellt wurden. Basler Behörden versuchten oft, die unmenschlichen Bestimmungen aus Bern zu umgehen und Flüchtlinge entgegen dem Willen der eidgenössischen Fremdenpolizei in Basel aufzunehmen.“ https://www.riehen.ch/gemeinde-riehen/portrait/geschichte/riehen-im-2-weltkrieg-0

 

Oberleutnant Christian Brückner schreibt zur militärischen Gesamtlage Basels in der Sonderschrift „Das Stadtkommando Basel, 1939-1989“: „In den ersten Oktobertagen 1939 bezog das Gros der Feldarmee eine Abwehrstellung, die von der Festung Sargans entlang dem Zürichsee und der Limmat zum Bözberg und von dort zum Gempen verlief. Basel lag vor der Abwehrfront. Die Stadt bildete einen vorgeschobenen Stützpunkt.“ Das heisst: das rote Basel wäre im Kriegsfall militärisch nicht verteidigt worden, wäre eine Stadt mit offenen Toren für die Naziarmee gewesen. Brückner: „Am 28. Juni 1940 wurde Basel «offene Stadt» ohne militärische Bedeckung. Die Armee begann ihren Marsch ins Réduit.“ Die Bevölkerung des Flachlandes wäre beim Falle eines Krieges im Stich gelassen worden. http://www.cbrueckner.ch/pdf/1989_Das_Stadtkommando_Basel_1939_1989.pdf

 

Als Einfallstor in die Nordwestschweiz war für die Nazi-Armeen der staatsvertraglich exterritoriale Badische Bahnhof in Basel auf Schweizerboden vorgesehen. Er wurde während des ganzen Krieges mit einer Hakenkreuzfahne beflaggt. Brückner zitiert in seiner Studie den Generaladjutanten der Schweizer Armee, der 1946 feststellte: „Der Badische Bahnhof in Basel war unter Missbrauch der vertraglichen Abmachungen über seine internationale Stellung gegen Treu und Glaube zur Rekrutierungsstelle und einer eigentlichen Drehscheibe in der Nachrichtenübermittlung, einem Spionagenest schlimmsten Ausmasses ausgestaltet worden.“ Wie einer kürzlich in der Basler Zeitung publizierten kleinen Notiz entnommen werden konnte, fanden in den unterirdischen Räumlichkeiten auch NSDAP-Versammlungen statt. Für deutsche AgentInnen wurden zudem geheime Ein- und Ausgänge in den Kellern von nahe gelegenen Wohnhäusern im Umkreis des Badischen Bahnhofs eingerichtet. 

 

Auch der mehrheitlich rote Regierungsrat Basel-Stadt sorgte sich wegen den allzu leichten Einfallsmöglichkeiten. Er verlangte von der Generalität der Schweizer Armee einen Flak-Schutz für die Zivilbevölkerung und für einfahrende deutsche Züge einen Kontrollstopp auf Basler Boden, damit nicht deutsche Truppen mit Personenzügen in die Schweiz einfuhren. Das Ansinnen wurde vom Schweizer Armeekommando höflich abgelehnt, um die Deutschen mit ihren von der Schweiz zugebilligten Transit-Gotthardzügen (Achse Berlin/Rom) nicht zu vergrämen. 

 

Schriftliche und mündliche Überlieferungen

 

Angesichts soviel eidgenössischer Kollaboration mit den Menschheitsverbrechern in Deutschland sollte nicht vergessen werden, was vor und während dem Zweiten Weltkrieg 1939-1945 in Deutschland und in Europa geschah. 

 

Der Kenntnis über das epochale Menschheitsverbrechen der Schoa sollten wir uns mit viel Respekt nähern. Es kann am besten über menschliche Kontakte und Überlieferungen geschehen, seien diese mündlich oder schriftlich. Carl Laszlo zum Beispiel sprach nie von seinen schrecklichen Erlebnisse in den nationalsozialistischen. Konzentrationslagern. Er hatte seine Erinnerungen im Büchlein „Ferien am Waldsee – Erinnerungen eines Überlebenden“ (Verlag Gute Schriften, Basel 1956) niedergelegt, und diese Schrift überreichte er gelegentlich seinen Bekannten kommentarlos. Diese wussten nun, wer er war und wie er gelitten hatte. Die Schrift genügte ihm. Scheu, tiefste Verletzlichkeit sind Stichworte. Das Unfassbare ist eben oft im Gespräch kaum fassbar. Die Schrift gewinnt etwas Unveränderliches, Schicksalhaftes, Absolutes. Sie stellt das dar, was gesagt werden sollte und darum gelesen werden muss, nichts mehr, nicht weniger, nicht Überflüssiges.

 

Dafür artikulierte sich Laszlo umso aktiver in der Künstlerinnenbewegung. Ende der Fünfziger- und anfangs der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts herrschte im informellen Kulturleben Basels eine grosse Aufbruchstimmung. Dazu gehörte als Basis die damalige Gewerbeschule, an der führende GrafikerInnen und PlakatkünstlerInnen unterrichteten. Sodann die Kunsthalle unter Arnold Rüdlinger, schliesslich der Eisenplastiker Jean Tinguely, der auch im Gundeldingerquartier aufgewachsen war. In die damalige Basler Kunstszene gehörte auch ein vitales Jazz-Leben. So lernte ich als begeisterter Zuhörer auch den österreichischen Trompetisten und Gitarristen Oscar Klein und seine Frau Miriam Klein, eine begnadete Sängerin kennen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar_Klein

https://de.wikipedia.org/wiki/Miriam_Klein

 

Ihr Sohn David Klein publiziert im Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit“ (Seiten 171) über die Flucht seiner väterlichen Familie anno 1939 aus Nazi-Österreich. Die Reise nach Palästina misslang, die Flüchtenden landeten wieder in Italien. Um sie 1943 vor der Deportation nach Auschwitz zu retten, versteckte sie ein Mitglied des antifaschistischen Untergrunds, ein Dorfpfarrer, der unter der Soutane stets einen Revolver trug. Auf der Flucht-Reise erhielt der kleine Oscar zu Bar Mitzwa sein erstes Musikinstrument, eine Mandoline geschenkt. Über den Alpenpass des Grossen Sankt Bernhard gelangten die Kleins mit grosser Mühsal zu Fuss schliesslich in die Schweiz und wurden von den Grenzbeamten nicht abgewiesen. Das Kriegsglück hatte sich seit Stalingrad gegen die Deutschen gewendet, die Schweiz begann, sich in ihrer Asylpolitik umzubesinnen. Auch gab es auf immer mehr Kanälen schreckliche Berichte über die Schoa.

 

Der Jazzer Oscar Klein war während Jahren mit dem Sohn von Benito Mussolini, einem Jazzpianisten befreundet. David Klein zitiert seinen Vater: „Das ist doch das Schlimmste, was einem faschistischen Diktator passieren kann, dass sein Sohn mit einem Juden schwarze Musik spielt.“ (Ebenda, S 175). So ist aus einer mündlichen Überlieferung zwischen Vater und Sohn eine schriftliche Überlieferung für die Nachwelt geworden.

 

Tradition, Vererbung des Wissens wird auch im Buch „Nie geht es nur um Vergangenheit“ zum zentralen Thema. Ein Kapitel widmet sich den Nachkommen von Opfern und Tätern. Schliesslich berichten Überlebende der Schoa und ihre Nachkommen aus dem Dreiländereck über Flucht und Verfolgung.

 

Aber auch die zahlreichen Menschen, die Zivilcourage bewiesen und mit ihren Taten in der Schweiz Flüchtenden geholfen hatten, finden Beachtung und Erwähnung. Nebst Paul Grüninger wird der Brief für die Flüchtlinge der Rorschacher Mädchenklasse an den eiskalten schweizerischen Bundesrat hervorgehoben. Im Bahnhaus der Deutschen Reichsbahn, auf Schweizer Territorium in Riehen beobachteten die Gebrüder Munz das Treiben der Sicherheitsbehörden, die deutschen Flüchtlingen im Rahmen der rassistischen Asylpolitik der Schweiz nachjagten. Diese Zeugnisse legten mitunter auch den ideellen Grundstein für die Gedenkstätte Riehen. Siehe auch: 

 

https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-10-nicht-sichtbar/

 

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Quelle:

 

Wolfgang Benz, Johannes Czwalina, Dan Shambicco

Nie geht es nur um Vergangenheit

Schicksale und Begegnungen im Dreiland 1933-1945

 

herausgegeben von Wolfgang Benz , Johannes Czwalina , Dan Shambicco

2018, DITTRICH VERLAG, D 53919 Weilerswist-Metternich, ISBN 9783947373307

 

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Veranstaltung der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft (CJA) Bern:
Montag, 25. März 2019, 19-21 Uhr.

Universität Bern, Hauptgebäude (Hochschulstrasse 4), Raum 120.

Die Autoren Johannes Czwalina und Dan Shambicco von der Gedenkstätte Riehen stellten ihr Buch «Nie geht es nur um Vergangenheit» vor. 
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Am 10. März 2019 fand in der SRF-Sendung «Sternstunde Religion» zum Thema alter Judenhass und neuer Antisemitismus eine Diskussion statt. Amira Hafner-Al Jabaji im Gespräch mit Doron Rabinovici und Hannah Einhaus.

Hier der Link https://www.srf.ch/sendungen/sternstunde-religion/vom-alten-judenhass-zum-neuen-antisemitismus

 

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"Forum" der Jüdischen Gemeinde Bern mit dem Thema "Alles koscher"

Ende März 2019 erschien rechtzeitig vor Pessach die neue Ausgabe des "Forum" der Jüdischen Gemeinde Bern (JGB), das vielseitige Magazin mit 60 Seiten über jüdisches Leben in und die jüdische Sicht auf Bern. Das Titelthema lautet diesmal «Alles koscher». Wer nicht JGB-Mitglied ist und das Magazin noch nicht abonniert hat, kann hier eine Probenummer für Fr. 15.- bestellen: info@worthaus.ch

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Neuerscheinung von Dan Shambicco, Johannes Czwalina:

Draussen spielt ein Leben


Das vorliegende Buch (erscheint Mai 2019) will ein Lebensgefühl vermitteln und auch als Versuch gelten, einen tieferen Zugang zu unseren Sinnen zu verschaffen und uns eine Welt hinter unserer oft oberflächlichen Wahrnehmung entdecken lassen. Es möchte der Sehnsucht nach dem schwerelosen Dasein und einfachen Glück, dem Nichtstun, und mit sich selbst Sein, nachgehen. Es will unsere Augen auf die kleinen und unscheinbaren Dinge richten, in denen aber bei genauer Betrachtung, die Fülle unseres Daseins liegt.

So will dieses Buch zum Nachdenken darüber anregen, was unser Leben wirklich lebenswert macht. Es möchte uns einladen, das Eigenleben wieder durch Kinderaugen zu deuten und zu betrachten. Das Kind in uns will das Leben als ein Fest verstehen. Seine Botschaft will uns zurücktragen zu dem, was wir eigentlich sind, und was wir eigentlich sein wollen, zu dem was eigentlich unser ist und unser bleiben soll.

 

Dan Shambicco, geboren 1991 in Basel, lebt in Riehen, wo er im Bildungs- und Erziehungswesen tätig ist. Er ist aktives Leitungsmitglied der Gedenkstätte Riehen. Der schweizerisch-israelische Autor hat bereits veröffentlicht: Unter dem blauen Baum – Prosagedichte (Verlag Waldemar Lutz, 2017). Nie geht es nur um Vergangenheit (Hrsg., Dittrich Verlag, 2018). Website: www.dan-shambicco.com/

Johannes Czwalina, geboren 1952 in Berlin, studierte Archäologie in Jerusalem und Theologie in Basel. Zehn Jahre arbeitete er als Großstadtpfarrer und war massgeblich am Aufbau verschiedener bedeutender sozialer und öffentlicher Einrichtungen beteiligt. 1990 gründete er sein Institut, die Czwalina Consulting AG, in Riehen bei Basel. Anfang 2011 eröffnete Czwalina in einem ehemaligen Weichenstellerhaus der Deutschen Bahn die Gedenkstätte Riehen. Seine langjährige Erfahrung aus der Beratungspraxis hat der Autor in verschiedenen Büchern verarbeitet, wie etwa Wenn ich noch mal anfangen könnte, Karriere ohne Reue und Die Wirklichkeit einblenden!

https://www.orellfuessli.ch/shop/home/artikeldetails/ID141262379.html

http://www.riverfield-verlag.ch/

 

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Stadtpark

 

Von Dan Shambicco

 

 

Verblieben im alten Park.

Dasein. Unter den Platanen.

Im Anblick des Lebenstheaters.

 

Des Träumers und Dichters trautes Heim,

den Verliebten die Bühne zur Turtelei.

Immer wieder schwirren schöne Damen.

 

Verschwiegen die Bekanntschaft.

Schüchternheit und Nervosität

Gekleidet in reizend Liebestracht.

Wortlos innig beisammen.

 

Noch nistet die schönste Taube in dir.

Sie weilt auf morschen Mauern,

dem wirren Treiben aufzulauern.

Flattert im grünen wundervollen Blühen.

 

 

Gedicht aus dem Bändchen „Unter dem blauen Baum“, Prosagedichte von Dan Shambicco, mit Bildern von Andrea Paro. 96 Seiten, ISBN 978-3-922107-14-9, Preis EUR 14,80, CHF 19,00. Verlag Waldemar Lutz, Basler Straße 130, D 7954O Lörrach, www.verlag-lutz.de

 

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(PIV, 19.02. / 12.03.2019 / 06.04.2019)