Die USA in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges

Wissen ist Kulturgut. Geschichte und Erinnerungskultur gehören dazu. Vorauswissen bildet die Grundlage der Macht und ihrer Geheimdienste. Wie dieses Herrschaftswissen im Kulturbruch des Zweiten Weltkrieges und der Menschheitsverbrechen der Schoa auch das Schicksal der Schweizerischen Eidgenossenschaft berührte, mögen ein paar Informationen aus der Vergangenheit der USA erhellen. (Teil 4)


Paul Ignaz Vogel

                                                                                                        In unserem Bestreben, Gisevius (= deutscher Wider-

                                                                                                        standskämpfer) zu schützen, verbreiteten wir Gerüchte,
                                                                                                        es sei ihm gelungen, in die Schweiz zurückzukommen  

                                                                                                        und er hielte sich dort versteckt. Die Gestapo suchte 

                                                                                                        daraufhin die ganze Schweiz nach ihm ab.

                                                                                                        Allen Welsh Dulles, Chef des nach Kriegseintritt der USA
                                                                                                        gegründeten US-Auslandsgeheimdienstes Office of 
                                                                                                        Strategic Services (OSS, später CIA) in Bern              

        

Am 8. November 1942 reiste Allen Welsh Dulles mit einem Diplomatenpass der USA über den französischen Bahnhof Annemasse in die Schweiz ein. Der Grenzübertritt war gerade noch geglückt. Die deutsche Wehrmacht und mit ihr die Gestapo waren soeben im bisher unbesetzten südlichen Teil Frankreichs einmarschiert um den Allierten entgegen die treten, welche in Nordafrika gelandet waren. Dulles reiste über Genf nach Bern und liess sich als ranghoher Mitarbeiter der US-Botschaft an der Herrengasse 23 nieder. Er installierte dort sein neues «Office of Strategic Services» (OSS). 

Ein republikanischer Antikommunist

William J. Donovan war ab 1941 Geheimdienst-Koordinator im Stab von Präsident Franklin D. Roosevelt. Er hatte Dulles im Sommer 1941 den Auftrag erteilt, für die USA einen strategischen Geheimdienst aufzubauen. Mit dem Angriff Japans auf die US-Flotte in Perl Harbour am 7. Dezember 1941 traten die bisher neutralen USA in den Zweiten Weltkrieg ein. 

Wer war dieser Dulles? 

Allen Welsh Dulles stammte aus einer angesehenen republikanischen Diplomatenfamilie von der Ostküste der USA. Er hatte als Princeton-Absolvent 1919 an den Verhandlungen zu den Versailler Verträgen teilgenommen, welche die Welt nach dem Ersten Weltkrieg friedlich regeln sollten. Danach trat er in eine Bank ein, die von seinem Bruder John Foster geführt wurde. Diese Bank warb auch für Anleihen zur Refinanzierung des Deutschen Reichs und vertrat deutsche Firmen, fungierte etwa als US-Generalrepräsentant für das Chemiekartell IG Farben. Die tief in das Deutschlandgeschäft verstrickte Bank wehrte sich gegen einen Kriegseintritt der USA. Dieser wurde mit dem Angriff in Pearl Harbour unvermeidlich. 

Im militärisch offenen bernischen Mittelland der Schweizerischen Eidgenossenschaft sass Dulles nun ab Winter 1942/1943 quasi vor Hitlers Tür. Die Armee hatte sich zu ihrem Selbstschutz ins Alpenréduit zurückgezogen. Die Schweiz befand sich nach der Schockstarre der Umzingelung im Juni 1940 durch Armeen der nationalsozialistischen und faschistischen Achsenmächte in einer Phase der grossen Anpassung und Unterwerfung ans Dritte Reich. Hilfesuchende Flüchtlinge, auch Juden und Jüdinnen wurden seit August 1942 zu Abertausenden an der Schweizergrenze brutalst abgewiesen und in den sicheren Tod der deutschen Vernichtungslager geschickt. Ein breites politisches Anpassertum bis zu den höchsten Behörden, die Infiltration durch Propaganda, eine indirekt wirksame fünfte Kolonne, die verdeckt auch in unserem Land operierende Gestapo ermöglichten es den Nazis, sich wirkungsvoll in der Schweiz aufzustellen. Für den cleveren Geschäftsmann und Spion Allen Welsh Dulles bestand so die Möglichkeit in Bern, gleich vor Ort ins Zwielicht der geheimen Informationsbeschaffung über das Dritte Reich zu treten. Eine wichtige Stelle war das deutsche Konsulat in Zürich mit Hans Bernd Gisevius von der deutschen Abwehr, einem Widerständler gegen Hitler. 83)

Protektorat des Dritten Reiches oder der USA?

Die oft wenig beachtete Operation «Torch» (engl.= Fackel) spielte auch bei der strategischen Umpolung der Schweizerischen Eidgenossenschaft gegen Ende 1942 eine zentrale Rolle, weil sich die militärischen Gewichte der weltweiten Auseinandersetzung plötzlich wesentlich verschoben hatten. Die von der deutschen Wehrmacht eingenommenen stets offensiven Kampflinien hatten sich europaweit überdehnt. An der Ostfront wurden in Stalingrad mit einer sowjetischen Gegenoffensive im November 1942 bis zu 300.000 Soldaten der Wehrmacht und ihrer Verbündeten von der Roten Armee eingekesselt. 

Fast gleichzeitig, am 8. November 1942, rückten Armeen von Grossbritannien und der USA in der Operation «Torch» nach Nordafrika vor. Algerien, Marokko, Tunesien, alle drei französische Kolonien, wurden besetzt und die dortigen politischen prodeutschen Behörden aus dem Kolonialland, aus Vichy-Frankreich, vorerst nicht gestürzt. Damit hatte auch ein hybrider Krieg gegen Faschisten und Nationalsozialisten begonnen, die politische und militärische Auseinandersetzung wurde mit der Résistence ins koloniale Mutterland Frankreich getragen.  

Am 20. November 1942 tagte der Schweizerische Bundesrat zu Bern und wollte über die allfällige Bedrohung der Schweiz in der neuen Situation beraten, welche durch die Landung der Alliierten in Nordafrika und die Besetzung Südfrankreichs durch die deutsche Wehrmacht entstanden war. Unmittelbar vor der Sitzung hatte ein Hauptmann im Generalstab namens Burckhardt einen Antrag von General Guisan an den Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes, Bundesrat Karl Kobelt übermittelt. Das überfallartige Überreichen sollte offenbar eine vorgängige Diskussion und Rücksprachen bei Fachleuten im EMD verhindern und den taktischen Verhandlungsspielraum von Kobelt eingrenzen. Guisan agierte wenn möglich stets gegen Kobelt und den Gesamt-Bundesrat als demokratisch gewählter Vorgesetzter. Der General war ein Anhänger von Mussolini, Pétain und hörte auf die Einflüsterungen von Roger Masson, dem Chef des schweizerischen Militär-Nachrichtendienstes und seinem deutschen Compagnon, SS General Walter Schellenberg. 

Keine Vertrauensperson der USA

Drei Tage nach der Bundesratssitzung, am 23. November 1942 berief der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartementes, Bundesrat Karl Kobelt eine dringliche Konferenz in Bern ein, an der auch Bundesrat Pilet-Golaz vom EPD, Bundesrat Stampfli vom EVD und vor allem General Guisan teilnahmen. Im Protokoll steht geschrieben, worum es ging, nämlich um die eventuelle Verstärkung der militärischen Bereitschaft der Schweiz: «Der Vorsitzende (Kobelt) gibt bekannt, dass ihm am 20.11.42, kurz vor der Bundesratssitzung durch Hptm. i. Gst. Burckhardt ein Antrag des Generals übermittelt worden sei auf Erhöhung der militärischen Bereitschaft.» General Guisan, ein grosser Anhänger der von Adolf Hitler schon seit 1937 von der Schweiz erwünschten Igelstellung der Schweiz, der Réduitlösung (Neutralisierung und Parkierung der kombattanten Armee in den sicheren Alpen) lagen folgende Anliegen am Herzen: 1. Schutz der Alpenbahnen, 2. Schutz der Flugplätze, 3. Schutz der Einfallstore.

Kobelt, der Chef des EMD, spielte eine allfällige Gefahr, die aus der neuen strategischen Situation in Westeuropa entstehen könnte, herunter, weil seiner Meinung nach wirtschaftliche Überlegungen für die Erhaltung der Unabhängigkeit der Schweiz im Vordergrund standen. Es war höchstens zu befürchten, dass die Schweiz auf wirtschaftlichem Gebiet noch enger mit dem Dritten Reich zusammenarbeiten musste. Ein bedeutendes Detail aus jener Konferenz mit dem General am 23. November 1942 mag die damalige strategische Wende für die Schweiz beleuchten.

Wer war denn dieser unscheinbare Hauptmann im Generalstab Burckhardt? Es braucht keine besondere Interpretationskünste für die Mutmassung, dass er Teil des militärischen Nachrichtendienstes war, der von Masson geleitet wurde. Dieser hatte bisher auch gerne und öfters in der Schweiz mit SS-General Walter Schellenberg einen Meinungsaustausch durchgeführt. 84) Der Hauptmann im Generalstab namens Burckhardt hätte Schweizer Militärattaché in Washington werden sollen. Doch der Bundesrat als politische Behörde hielt dagegen. In einer brisanten Randnotiz im Protokoll der von Bundesrat Kobelt am 23. November 1942 geführten Konferenz heisst es: «Im Anschlüsse daran findet eine kurze Aussprache statt über die hängigen Fragen betreffend Militärattachés. Bundesrat Pilet-Golaz gibt Aufschluss über die Gründe, die zur Ablehnung von Hptm. i. Gst. Burckhardt durch die Vereinigten Staaten von Amerika führten. Offensichtlich betrifft diese Ablehnung nur die Person von Hptm. Burckhardt und nicht das vorgesehene Amt. Der General ersucht darum, dass ihm diese Auslegung des betreffenden Bundesratsbeschlusses noch besonders notifiziert werde. Er wurde nicht angehört in dieser Sache.» Eine persona non grata für die USA war hiermit aufgeflogen. Enttarnt, könnte man dem sagen. 85)

Um zu erklären, wie stark die personellen Bindungen des schweizerischen militärischen Nachrichtendienstes zu analogen deutschen Amtsstellen waren und wohin die Militärdiplomatie von General Henri Guisan zielte, sei daran erinnert: Es fand später, am 3. März 1943 das vorerst geheim gehaltene Treffen Guisan-Schellenberg im Bären zu Biglen statt, für das sich der Oberkommandierende der Schweizer Armee einen schriftlichen Verweis des Bundesrates einhandelte. Die Provokationen und Kontaktsuche gingen jedoch weiter: Mit einem Brief vom 19. Mai 1943 lud SS-General Walter Schellenberg Roger Masson zu einem Besuch in die Reichshauptstadt Berlin ein, was ihm der Bundesrat ebenfalls umgehend verbot. Dies sei nicht erlaubt in einer Zeit der Mobilmachung und des Aktivdienstes der Schweizer Armee.  

Misserfolge und Erfolge des OSS (Office of Strategic Services)

Dies führt zur Frage: Wie nachhaltig und wirksam war eigentlich auf der Gegenseite die USA-Allianz, das OSS von Allen Welsh Dulles in Bern? Wie sieht das im Rückblick aus?

Am 19. Juli 1945 hielt der oberste Chef des OSS, William J. Donovan in einem Bericht in Washington DC fest, dass die Auslandspionage der USA im militärischen Ringen mit dem Dritten Reich weitgehend versagt hatte. Während die allierten Armeen am Rhein standen und sich vorbereiteten, den Kampf nach Deutschland weiter zu tragen, fehlten ihnen nachrichtendienstliche Hilfen vor Ort, das heisst wirksame Spione hinter den feindlichen Linien. Mit grossem Aufwand hatte die OSS versucht, Agenten einzuschleusen. 

Am 1. September 1944 gingen vier US-Spione mit Fallschirmen im Ruhrgebiet nieder. Einer davon konnte sich bis Berlin durchschlagen. Ein zweiter erreichte das besetze Holland. Aber es gelangen ihnen nicht, eine Kommunikation mit der Zentrale aufzubauen, und somit kam es zu keinen geheimdienstlichen Erkenntnissen (Donovan: «no current intelligence»). In seinem Bericht wies Donovan auf die fachlich ausgezeichnete Arbeit der deutschen Abwehr und der Naziorgane hin. Diese Strukturen wirkten übermächtig nicht nur im Dritten Reich, sondern auch in den Gebieten von sogenannt Neutralen wie Portugal, Schweden und der Schweiz. Woran lag denn dieser nachrichtendienstliche Misserfolg? Warum tappten die USA – und somit auch die Schweiz - im Dunkeln? 86) 

Allen Welsh Dulles, der Chef der USA-Geheimdienstresidentur in Bern deutete bereits in seinem erstmals in New York 1947 veröffentlichten Bericht «Verschwörung in Deutschland» auf Lücken im Abwehrsystem der allierten Spionage gegen Deutschland hin. Und lieferte zwei Beweise.

Zum Beispiel: Carl Langbehn, ein Mitverschwörer des deutschen Widerstandes und Bekannter von Johannes Popitz war im September 1943 im Auftrag von Heinrich Himmler nach Bern gereist, um bei Dulles die Möglichkeit eines Separatfriedens mit den Westallierten zu sondieren, wobei Adolf Hitler von der politischen Szene zu verschwinden hätte. Dulles: «Eine chiffrierte Nachricht, die von einer allierten Stelle, weder amerikanisch noch britisch, ausging, wurde von der Gestapo entziffert.» 87) 

Und Hans Bernd Gisevius, ebenfalls ein Widerständler, hatte kurz vor dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 Dulles in Bern besucht, war dann wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Die Gestapo war ihm auf den Fersen. Die OSS der USA, welche dies wusste, liess daher gezielt Gerüchte verbreiten, Gisevius befinde sich in der Schweiz, was nicht stimmte. Die Gestapo tappte in die Falle und suchten ihn in unserem Land. 88) 

Ein hoch brisantes Faktum mit zwei beunruhigenden Indizieren: Die Gestapo konnte frei und ungehindert in der Schweiz observieren, ohne von den eidgenössischen Behörden deswegen irgendwie erkannt, ja behindert zu werden. Dulles: «Die Gestapo suchte daraufhin die ganze Schweiz nach ihm ab.» Schweizerische Souveränität, ade! Der deutsche Inlandsgeheimdienst nutzte offenbar von seinem regionalen, auch für die Schweiz zuständigen Sitz im Hotel Silber zu Stuttgart aus funk- und abhörtechnische Mittel, welche damals höchstmodern und den Möglichkeiten der Gegner von Nazideutschland weit überlegen schienen. 

Totales Herrschaftswissen    

Erst am Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess (1946-1949) wurde eine bedeutende technische und organisatorische Innovation im Dritten Reich enthüllt. Im Verhör mit Hermann Göring stiess man auf das den allierten Geheimdiensten bisher unbekannte «Forschungsamt» des Reichsluftfahrtsministeriums, welches die hochgradig abgehorchte Gesellschaft des Dritten Reiches manipulierte. 

Auch Wilhelm F. Flicke war dort tätig. Nach 1945 musste er umfassende Berichte für die USA verfassen, die 1953 von der National Security Agency (NSA) als geheim klassiert und erst am 15. Juli 2014 frei gegeben wurden – also erst 69 Jahre nach Kriegsende und 13 Jahre nach Nine eleven. Flicke schrieb in einem seiner Berichte: «Das Prinzip der verschlüsselten Funktelefonie war bereits bekannt. Schon vor dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten wusste man in Deutschland, dass sich die beiden westlichen Staaten oft auf diese Weise unterhielten. Als Hitler das herausfand, gab er den Befehl, ohne Rücksicht auf Kosten ein Gerät zu entwickeln, solche Unterhaltungen zu verstehen. Übers.» 89) 

So musste das OSS in Bern mit passenden Zufallsfunden Vorlieb nehmen, die jedoch auch zu spät in der Zentrale eintreffen konnten. Das kapitale Instrument für das Abschöpfen von strategischen Informationen waren immer noch in den menschlichen Quellen gegeben. Verbunden mit dem hohen Risiko, diese wegen Enttarnung zu verlieren. Das bedeutete Folter und Mord für viele Beteiligte.

Im Kapitel über Heinrich Himmler im Bericht «Verschwörung in Deutschland» skizzierte Allen Welsh Dulles eine Szene aus den letzten Tagen des Dritten Reiches im Frühjahr 1945, als die Gestapo die Spuren der Verbrechen des nationalsozialistischen Systems zu beseitigen versuchte. Bei einem allierten Luftangriff in der Nähe von Berlin stürzten Güterwagen über einen Bahndamm. Sie waren voller Akten «von faszinierender Wichtigkeit» (so Dulles). Die Funde aus dem Auswärtigen Amt wurden von den Russen beschlagnahmt, eine geheime Reichssache fiel jedoch in die Hände von US-Agenten, woraus hervorging «dass Heinrich Himmler im Jahre 1943 schon nicht abgeneigt war, gegen seinen Führer zu konspirieren.» Die Akte enthielt auch die Anklageschrift gegen Dr. Johannes Popitz, den preussischen Finanzminister und Dr. Carl Langbehn. Solche allierte Aktenfunde waren eminent wichtig für die Anklage am Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess. 90)

Nebst seinen riskanten und für viele Betroffene mörderischen Kontakten zum deutschen Widerstand konnte Dulles jedoch einen strategischen Erfolg buchen: Den Separat-Waffenstillstand anfangs Mai 1945 zwischen den USA, Grossbritannien und den militärischen Kräften des Dritten Reiches an der Südfront in Italien, die Operation Sunrise. Sie erfolgte ganz bewusst und gewollt unter Ausschluss der UdSSR. Die Verhandlungen fanden teilweise im schweizerischen Ascona statt. Die Operation Sunrise unternahm Dulles eigenmächtig, gegen den Willen der damals amtierenden demokratischen amerikanischen Präsidenten (Roosevelt, gestorben am 12. April 1945 und darauf Truman, vorher Vizepräsident). 

Auch die Schweizerische Eidgenossenschaft durfte somit, diskret wie immer und mit minimalsten Eigenleistungen, ihr antisowjetisches und zukünftig antikommunistisches Profil schärfen, ganz ohne sich schmutzig zu machen. 91)

Dulles hatte stets einen strategischen Sprung der Sowjetunion nach Norditalien zu den Industriezentren um Mailand mit ihren straff organisierten kommunistischen ArbeiterInnen gefürchtet. Er wollte kein zweites Österreich mit vier Besatzungszonen südlich der Alpen, er dachte sich schon in die Kategorien des Kalten Krieges hinein. 

Festzustellen wäre auch, dass für Dulles in dessen Denk-Analysen und strategischen Operationen die Schoa nicht vorkam. Als man ihn nach Kriegsende darauf hinwies, soll er beiläufig gesagt haben: «Ah, das stimmt also doch». Seine Haltung definierte Reuben Hecht in einem Interview so: «Dulles war nicht an dem jüdischen Problem in Europa interessiert, weil er dachte, dass dies eine Behinderung für die alliierten Kriegsanstrengungen sei. (Übers).» Dulles sei ein Feind, Woods aber eine helfende Kraft gewesen. 92) 

USA mit parallelen Nachrichtenlinien ins Dritte Reich

Eine grundsätzliche Feststellung ist nötig: Die USA operierten während des Zweiten Weltkrieges von der Schweiz aus ab 1942 mit zwei Nachrichtenlinie nach Nazideutschland. Die offizielle lief über Dulles als Teil der US-Botschaft in Bern. Er gehörte der republikanischen Partei (GOP) an, die Präsidenten Roosevelt und Truman, denen er zu dienen hatte, waren jedoch beide Mitglieder der Demokraten-Partei. Die zweite, wahrscheinlich wirksamere Nachrichtenlinie der USA nach Nazideutschland lief über das US-Konsulat in Zürich. Beide Linien berichteten getrennt voneinander nach Washington in die Regierungszentrale. 

Die Zürcher Nachrichtenlinie hatte sich so entwickelt: Im August 1937 wurde Sam Edison Woods Handelsattaché an der Berliner US-Botschaft. Zu seinen Aufgaben gehörte das Verfassen von Wirtschaftsberichten über Deutschland. Durch seinen Job lernte er den Berliner Finanzberater Erwin Respondek, kennen. 93) 

Respondek, ein römisch-katholischer Schlesier, welcher in der Weimarer Republik kurz vor dem Umsturz von 1933 noch als Abgeordneter der Zentrumspartei im deutschen Reichstag sass, hatte als Volkswirtschaftler und Finanzfachmann ein kompetentes Netzwerke in einflussreiche Kreise von Handel und Industrie aufgebaut. Er konnte auch seine Beziehungen in die einzelnen Berliner Ministerien nach Ergreifung der Macht durch die Nazis beibehalten. In seiner Agentur, die neben der US-Botschaft beim Pariser Platz in Berlin seinen Sitz hatte, verkehrten auch viele jüdische KundInnen, mit der Bitte um Beratung und Hilfe beim Transfer von materiellen Gütern ins Ausland. Der Biograph von Respondek berichtete: «Als die deutschen Juden in den späten 1930er Jahren einer immer größeren persönlichen Gefahr ausgesetzt waren, wandten sich einige an die Respondeks, um Hilfe bei der Flucht aus dem Land zu erhalten (Übers.)». 94)

Als Eingeweihter wusste Respondek, wie seit der Machtergreifung die Nazis mit dem «Forschungsamt» ein gigantisches Telefon- und Telegramm-Abhörsystem aufgebaut hatten. So verhielt er sich klug, zurückhaltend und äusserst methodisch. Er kannte zwar den deutschen Widerstand gegen Hitler und war mit ihm ideell einig, vermied aber, mit Ausnahmen (u.a. Johannes Popitz) personelle Verknüpfungen. Seinen Spionagepartner Woods von der USA-Vertretung Berlin traf er konspirativ, oft in dunklen Räumen (Theater, Kinos) zur Übergabe von Akten. Mathematisch begabt, beschränkte er sich darauf, mit Angaben aus den Ministerien vor allem volkswirtschaftliche und finanzpolitische Statistiken zu erarbeiten, hinter deren Zahlen oft verschlüsselt auch Zweit-Informationen stehen konnten. Geselligkeit pflegte er vor allem zu Hause mit seiner Frau als gewiefte Gastgeberin. Sonst war er weitgehend verschwiegen. 

Eine Ausnahme bildete Handelsattaché Woods von der US-Botschaft in Berlin. Ihm lieferte Respondek fortlaufend geheime Information. So etwa über den geplanten Überfall auf Polen, über den Einsatz von Lastenseglern beim erfolgreichen Angriff auf Belgien im Westfeldzug 1940. Schon damals warnte er vor dem Angriff auf die UdSSR, der dann 1941 erfolgte. Er hatte Informationen über die Atomversuche der Nazis, über das Giftgas Zyklon B etc..94) Im Februar 1941 suchte die Gestapo erstmals Respondek in seinem Büro auf, beschlagnahmte alle Akten von jüdischen KundInnen und nahmen ihn bis Mai 1941 zu Verhören in Haft. Der Befragte hielt stand, die Gestapo wusste nichts von seiner Spionagetätigkeit und erfuhr auch nichts. Am 10. Januar 1942 wurde er nochmals zu seinen Kontakten zu Woods befragt und wochenlang inhaftiert, ohne Erfolg jedoch für die Nazis. Nach dem Hitlerattentat verhaftete ihn die Gestapo ein weiteres Mal, und als er Ende September 1944 frei gelassen wurde, war er ein gebrochener Mann. 94)

Nach dem Überfall Japans auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 waren auch die USA in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Die diplomatischen Beziehungen der USA zu Reichsdeutschland entfielen. Woods wurde festgesetzt, dann ausgetauscht und erhielt im August 1942 einen neuen Posten als Generalkonsul in Zürich. Respondek lieferte ihm weiterhin seine Berichte. Da Woods einen Bruder im Kabinett des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt hatte, übermittelte er seine nachrichtendienstlichen Erkenntnisse direkt an den Präsidenten - unter Umgehung von Dulles. (Übers.)». 95) 

Woods knüpfte in Zürich Kontakte zum sozialdemokratischen Verleger Emil Oprecht und zu Yitzchak und Recha Sternbuch, einem Ehepaar, das den Schweizer Zweig des Emergency Rescue Committee (Va'ad ha-Hatzalah) der Union der orthodoxen Rabbiner leitete. Und im September 1944 kam der Kontakt mit Alt-Bundespräsident Jean-Marie Musy zustande.

Dieser wandte sich darauf an seinen alten Freund Heinrich Himmler und fuhr zur Besprechung in einem Zug der deutschen Wehrmacht am 3. November 1944 von Breslau (Wroclaw) nach Wien - um einen Pakt mit dem Teufel einzufädeln: Hundertausende von Todgeweihten in der Nazi-Vernichtungslagern sollten in wöchentlichen Etappen via Schweiz in die Freiheit – und ins Leben - weiterreisen dürfen. Dafür sollten die WächterInnen der Mordzentren bei ihrer Verhaftung durch die Allierten Wehrmachtuniform tragen und nach Kriegsrecht abgeurteilt werden. Etwa nach der nationalsozialistischen Doktrin «Das Dritte Reich im Krieg gegen das Judentum»? Für die Todgeweihten würde eine bestimmte Summe beim Deutschen Roten Kreuz als Zeugnis guten Willens deponiert werden. Die «Times of Israel» schrieb dazu: « Zwei Wochen später, am 18. November, teilte Musy Himmler schriftlich mit, dass die Regierung der Vereinigten Staaten bereit sei, über Musy und ihren Generalkonsul in Zürich, Woods, an Verhandlungen mit ihm über den möglichen Transfer von Hunderttausenden von Juden aus Konzentrationslagern im Reich über die Schweiz in die Freiheit teilzunehmen. Am 24. November 1944 befahl Himmler, die Vergasungen einzustellen und die Krematorien in Auschwitz und seinen 51 Außenlagern zu zerstören.» 96) 

Ein einziger Zug mit Geretteten erreichte die Schweiz über die Grenze bei Konstanz, dann blieben weitere Züge aus. Hitler und seine Kumpanei von einst (aus dem inneren Zirkel des Berghofes in Obersalzberg, zu dem Himmler nicht gehörte) hatte Wind bekommen und jegliche weitere Rettung unterbunden. Der Pakt mit dem Teufel war geplatzt. 97) 

Thema am Nürnberger Kriegsverbrecherprozess

Im März 1945 erliess beim Betreten des deutschen Reichsgebietes der Oberbefehlshaber der allierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower von der USAR eine «Proklamation Nr. 1 an das deutsche Volk», in der ankündigte, seine Truppen kämen als Sieger, aber nicht als Unterdrücker ins Land. Es gelte nun, den Nationalsozialismus und den Militarismus zu vernichten. Und: «Führer der Wehrmacht und der NSDAP, Mitglieder der Geheimen Staats-Polizei und andere Personen, die verdächtigt sind, Verbrechen und Grausamkeiten begangen zu haben, werden gerichtlich angeklagt und, falls für schuldig befunden, ihrer gerechten Bestrafung zugeführt.» 98) 

Noch im April 1945 geisterten alt Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Jean-Marie Musy und sein Sohn Pierre im zusammenbrechenden Nazireich herum. Die Musys versuchten, Todgeweihte zu retten und halfen gleichzeitig - gewollt oder ungewollt - Menschheitsverbrechern, ihr Gesicht im verlorenen Krieg zu wahren. Wobei schon anfangs 1943, seit der Konferenz von Casablanca weltweit feststand, dass für die Allierten nur eine bedingungslose Kapitulation des Dritten Reiches in Frage kam. Ausgeschlossen war eine neue antikommunistische Allianz der Westmächte mit Deutschland gegen die UdSSR.  

SS-General Walter Schellenberg 99) sagte am 4. Januar 1946 vor Oberst John Harlan Amen, dem Chefvernehmer während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse aus, dass Adolf Hitler persönlich zu Himmlers Befehl, die Vernichtungslager nicht zu evakuieren, einen Gegenbefehl erteilt hatte. Die Evakuierung der Konzentrationslager durch Todesmärsche hatte somit ihren entsetzlichen Lauf genommen. Schellenberg vor den Nürnberger Richtern: «Ich kann Ihnen das genaue Datum nicht nennen, aber ich glaube, es war Anfang April 1945. Der Sohn des ehemaligen Bundespräsidenten Musy, der seinen Vater in die Schweiz gebracht hatte, kehrte mit dem Auto in das Konzentrationslager Buchenwald zurück, um eine jüdische Familie zu holen, die ich selbst befreit hatte. Er fand das Lager in der Evakuierung unter den erbärmlichsten Bedingungen vor. Als er drei Tage vorher seinen Vater in die Schweiz gefahren hatte, wurde ihm vor seiner Abreise definitiv zugesichert, dass die Lager nicht geräumt würden. Da diese Zusicherung auch für General Eisenhower bestimmt war, war er über diesen Bruch des Versprechens doppelt enttäuscht. Musy, Jr. suchte mich persönlich in meinem Büro auf.» (Übers.) 

Treu und Glauben als Grundprinzip bei Vereinbarungen zwischen Menschen unserer Kultur galten nicht für Massenmörder und Menschheitsverbrecher. «The Times of Israel» schrieb dazu: «Eine Konferenz in Yad Vashem im Jahr 1974 und die daraus resultierende Dokumentation zeigten, dass diese Verhandlungen letztlich das Leben vieler Tausend Juden retteten (Übers.).» 100). Es galt die alte Weisheit: Der Zweck heiligt die Mittel.

(Fortsetzung folgt)

Quellen:

83) https://www.srf.ch/play/tv/spuren-der-zeit/video/der-meisterspion-von-bern-allen-dulles-und-die-schweiz-im-2--weltkrieg?urn=urn:srf:video:14716f6f-98af-4ed7-b250-a018e909add4
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43065783.html
https://www.heise.de/tp/features/Die-magische-Kugel-des-Allen-Dulles-3376471.html?seite=all
https://www.woz.ch/-1ed5
84) https://dodis.ch/47568, E 1005/4/1937-1949. Séance du CF du 25 juin 1943
85) 
https://dodis.ch/47468
E 4001 (C) 3/2, Le Chef du Département militaire, K. Kobelt, aux membres du CF, Bern, 17 décembre 1942
86) 
https://quod.lib.umich.edu/h/hiss/hiss1111.0109.001/5/--secret-documents-and-office-of-strategic-services-memos?page=root;rgn=full+text;size=100;view=image
87) Allen Welsh Dulles, «Verschwörung in Deutschland», Europa Verlag Zürich, 1948, Seite 227
88) Allen Welsh Dulles, «Verschwörung in Deutschland», Europa Verlag Zürich, 1948, Seite 191
89) 
https://www.nsa.gov/Portals/70/documents/news-features/declassified-documents/friedman-documents/publications/FOLDER_265/41760949080010.pdf
Wilhelm F. Flicke, War secrets in the ether, Part III, p.252
90) Allen Welsh Dulles, «Verschwörung in Deutschland», Europa Verlag Zürich, 1948, Seite 201 ff.
91) 
https://dodis.ch/48007
https://blog.nationalmuseum.ch/2020/03/operation-sunrise-in-ascona/
92)  https://www.timesofisrael.com/deal-with-the-devil/
93) https://usmspecialcollections.omeka.net/exhibits/show/samwoods/diplomacy
94) John Van Houten Dippel, Two against Hitler: Stealing the Nazis’ best-kept secrets, New York NY,1992, PRAEGER Publishers, 
a) S.13, Jüdische KundInnen
b) S. 59, S.69, S. 133 Gestapo
c) S. 61, S.84 Uranspaltung
d) S. 78, Kurier aus Deutschland
95) https://www.timesofisrael.com/deal-with-the-devil/
96) 
https://www.timesofisrael.com/deal-with-the-devil/
97) https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/moerschwilstgallen-sie-war-dabei-als-1200-juden-aus-dem-konzentrationslager-in-stgallen-ankamen-ld.1015477
98) https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Proklamation_Nr._1_-_Zweisprachige_Bekanntmachung_des_Obersten_Befehlshabers_der_alliierten_Streitkr%C3%A4fte_Dwight_D._Eisenhower_(deutschsprachiger_Teil).jpg#:~:text=An%20das%20Deutsche%20Volk%3A,Streitkr%C3%A4fte%20gebe%20hiermit%20Folgendes%20bekannt%3A&text=Den%20deutschen%20Militarismus%2C%20der%20so,hat%2C%20werden%20wir%20endg%C3%BCltig%20beseitigen
99) siehe auch: 77) https://dodis.ch/47520
100) https://www.timesofisrael.com/deal-with-the-devil/

© Paul Ignaz Vogel, 7. April 2021