Wie die Wende von Geheimdiensten gemanagt wurde

In mehreren Gesprächen mit Georg Dobrovolny (Gründer des Forums Ost-West, Dr. oec. HSG), einem Kenner des ehemaligen Ostblocks in Europa, konnte ich wichtige und originelle Informationen über das Ende des Kalten Krieges und die sogenannte «sanften Wende» erhalten. Durch seine Analysen erfahren wir mehr über die möglichen Hintergründe der Invasion der Russischen Föderation in der Ukraine, zuerst 2014 mit der Annexion der Krim, danach dem hybriden Krieg im Donbass und mit der zweiten brutalen Invasion, dem Angriffs- Krieg ab dem 24. Februar 2022 als Strafaktion.

 

Paul Ignaz Vogel  

 

In jenen grossen zeitgeschichtlichen Umbrüchen zwischen 1989 und 2000 und den strudelartigen Ereignissen, die oft aus gesellschaftlichen Tiefenströmungen Unbekanntes, Unerwartetes und oft vorerst Unverständliches zu Tage treten liessen, ist es gut, einem roten Faden zu folgen. Einen solchen finde ich in der Person von Dr. Georg Dobrovolny - fortan Georg genannt. Seine Heimat, die Tschechoslowakei, wurde 1968 durch die Warschau Pakt-Truppen mit Tausenden von Panzern und Antonow-Flugzeugen besetzt. Georg konnte in die Schweiz fliehen. Er wurde in Abwesenheit von einem tschechoslowakischen Gericht mit fünf Jahren Gefängnis bestraft, lebte nach seiner Flucht zuerst in der Stadt St. Gallen und wurde 1981 dort eingebürgert, nachdem er 11 Jahre lang an der HSG als Assistent und Doktorand mitgewirkt hatte. Zudem hatte er 10 Jahre lang Russisch unterrichtet.

Kennen lernte ich Georg durch meine Mitarbeit im Schweizerischen Ostinstitut (SOI) in Bern. Die dort Mitarbeitenden kritisierten systematisch den in den Ostblockstaaten praktizierten sogenannten realen Kommunismus. Das SOI befand sich ab 1990 in Auflösung. Ich wurde Zeitzeuge dieses Abbau-Prozesses und bekam auch Kenntnis von der Entstehung des Forums Ost-West FOW und des innovativen Programms «Pionier sein, statt stempeln».

                                                          

Georg ist ein Zeitgenosse aus dem anderen Lager jenseits des Eisernen Vorhangs, jemand, der weiss, was totalitäre Unterdrückung bedeutet. Durch ihn erfuhr ich von einem sehr typischen tragischen Einzelfall - und detaillierter von der Geschichte des Kalten Krieges jenseits des Eisernen Vorhanges. Ich konnte über das Leben seines Vaters in einem Beitrag auf meiner Website publizieren. Dies ist auch als Erinnerung an die über 100'000 Sklavenarbeiter Stalins, die unter anderem in den Urangruben Jachymov in Westböhmen schuften mussten, gedacht Siehe https://www.paul-ignaz-vogel.ch/archiv-23.

 

Die Urangruben im Böhmerwald waren ein erzwungener Beitrag der CSSR für die sowjetische Atombombe - quasi als erpresster Preis für die sogenannte «Befreiung» der Tschechoslowakei am Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Rote Armee. Dabei wurde mitunter verschwiegen, dass die US-Army auch wesentlich zu diesem Waffensieg beigetragen hatte und bis nach Pilsen in Westböhmen - vor der Roten Armee - vorgerückt war.

 

Von der kommunistischen Plan- zur postkommunistischen Marktwirtschaft

 

Bereits im Jahre 1986 erfuhr Georg von den Umbau-Plänen, die der ehemalige sowjetische KGB-Chef Juri Andropow angedacht und der CSSR-Führung angetragen hatte. Andropow war 1982 zum Generalsekretär der KPdSU und als der zweite Nachfolger des verstorbenen Leonid Breschnew ernannt worden. Somit war er auch letztlich oberster Chef von Wladimir Putin, des heutigen Herrschers im Kreml.

 

Aus den Erfahrungen der Tschechoslowakei im Jahre 1968, aber auch aus den Resultaten der volkwirtschaftlichen Forschungen von Professor Ota Šik hatte sich in Prag das «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften» - Prognostický ústav Československé akademie věd - entwickelt. Die Forschungsstelle wurde insgeheim vom sowjetischen Geheimdienst KGB gesteuert und war zudem mit einigen US-Stellen auch mit der CIA verbunden.

 

Bei einem gemeinsamen Schwimmen im bayrischen Starnberger See bei Tutzing teilte ein Experte vom Prager Prognos-Institut 1986 Georg eine brisante interne Information mit: «Die Wende kommt zuerst, jedoch seien einige Grundprobleme zu klären, unter anderem der Kaufkraft-Überhang.»

 

1958-1991 lehrte Professor Karel Kouba in Prag über die Theorie und Praxis der Marktwirtschaft. Es ging darum, Ungleichheiten im volkswirtschaftlichen Geschehen der bisherigen Planwirtschaft auszugleichen, so etwa die versteckte Arbeitslosigkeit, die verdeckte Inflation etc..

 

In den Monaten November / Dezember 1985 weilte Georg in Washington DC und nahm dort Kontakte mit dem Tschechen Dr. Jan Vanous von Plan-Econ auf. Vanous war mit dem «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften» verlinkt.

 

Im Mai 1989 organisierte Georg in Zürich eine Tagung mit namhaften Referaten, unter anderen von Dr. Peter Sager und Professor Ota Šik, unter dem fragenden Titel: «Im Osten nichts Neues?». Ota Šik hatte 1968 die Wirtschaftsreformen des sogenannten «Prager Frühlings» definiert, war danach aus der CSSR emigriert und dozierte in Zürich und St. Gallen. Die in der Schweiz akkreditierten Diplomaten vertraten an dieser Diskussion die Interessen ihrer Staaten in Mittel- und Osteuropa.

 

In der Mitte des Jahres 1989 flog Georg, nach der Einbürgerung mit einem Schweizerpass versehen, 21 Jahre nach seiner Flucht und auf Wunsch von Ota Šik in seine tschechoslowakische Herkunftsheimat. Ota Šik, am 11. September 1919 geboren, wollte seinen 70. Geburtstag zusammen mit emigrierten Fachleuten aus Polen, Ungarn und der CSSR und Russen in St. Gallen feiern. Zwei CSSR- Vertreter aus dem Umfeld der «Reformer» hatten sich dazu gesellt.

 

Es kam zu einem Treffen mit Prof. Karel Kouba vom «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften». Karel Kouba informierte Prof. Ota Šik später, darüber, dass bereits «andere Pferde am Start sind». De facto kam Ota Šik nach der sogenannt sanften (sametové) Wende nur als Berater von Präsident Vaclav Havel zum Zuge.

 

Samtene Revolution in der Tschechoslowakei

 

Die Ereignisse in Mittel- und Osteuropa in der sogenannten Wende verliefen in Mittel- und Osteuropa weitgehend friedlich. Ausnahmen bildeten Rumänien und Ex-Jugoslawien im November und Dezember 1989. Doch sie wandelten die CSSR, Polen, Ungarn usw. vordergründig um.

 

Václav Klaus, ein tschechischer Wirtschaftswissenschafter, überreichte dem neuen Staatspräsidenten Václav Havel ein pfannenfertiges Wirtschaftsprogramm zur Lösung des Umwandlungsprozesses. Klaus stammte aus dem - vom sowjetischen KGB infiltrierten - «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften». Das hatte weitreichende Folgen für die Tschechoslowakei und ganz Europa im Wandel.

 

In der ersten nichtkommunistischen Regierung Ende 1989 sassen gemäss Georg weitgehend Leute aus dem «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften». Klaus wurde Finanzminister. Dieser rasche und eindeutige Trend setzt sich auch später mit der innenpolitischen Festigung der neuen Behörden durch. Klaus machte politische Karriere.

 

Auch die Coupon-Privatisierung der Planwirtschaft hatte ihre weitreichenden Folgen für die Abschöpfung der Kaufkraft. Es entstand eine zur Kapital-Kumulierung (Aufkauf) tendierende privatwirtschaftlichen Machtkonzentration unter den alt-neuen Herren, den Oligarchen. Ausländisches Kapital wurde in die Pensionsfonds aufgenommen. Auflösung des «sozialistischen Volksvermögens» in die Privattasche, mit dem andauernden Versuch, das privatwirtschaftliche System durch Korruption zu gefährden und mit den eigenen «inneren Widersprüchen» (Dialektik des historischen Materialismus) zu zerstören.

 

Aus den Forderungen des «Prager Frühlings» vom Jahre 1968 blieben nach 1989: Der uneingeschränkte Personenverkehr, die Zuwendung zu freien Nationalstaaten, die Anerkennung persönlichen und/oder kollektiven Besitzes und die Brechung des Machtmonopols der kommunistischen Partei mit der Einführung einer parlamentarischen Demokratie, welche die wahren Volksinteressen in ihrer Vielfalt mit allen Parteien repräsentieren sollte.

 

1990 erhielt Georg ein Telefon von Dr.Jan Vanous. Dieser schlug vor, "etwas für die Heimat zu machen". Er meinte damit die damals noch bestehende Tschechoslowakei CSFR. In Prag trafen sich bei einem Syposium die Spitzen der sogenannt samtenen Wende, Klaus, Havel, Kouba, aber auch der Mann, mit dem Georg 1986 im westdeutschen Starnberger See geschwommen war, etc..

Am typischen Modellfall der einstigen Tschechoslowakei wird erkennbar: Die Super-Neureichen avancierten – von einer breiten Öffentlichkeit vorerst wenig beachtet - zu wichtigen strategischen Vorposten im marxistisch-leninistischen Überlebenskampf, den das KGB in Moskau in den Achtzigerjahren vorigen Jahrhunderts unter Juri Andropow angestossen hatte. Eine verdeckte Herrschaft blieb nach der vordergründigen Wende von 1989 bestehen.

 

Geheimhaltung als Basis der Machtzukunft

 

Der freie Westen war von der Wende in den staatssozialistischen Ländern des Ostblocks 1989 angeblich überrascht. Georg hält fest: Diese Wende war vom KGB mit der CIA gemacht. Er erklärte dies.

 

Im «Institut für Prognosen der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften» arbeiteten vor der samtenen Revolution rund 50 Personen. Über diese wurden Akten angelegt. Ebenso über die Uraniumförderung in der CSSR zur Herstellung der ersten sowjetischen A-Bombe unter Josef Stalin. Geheimdienstliche Akten zu diesen beiden Vorgängen gelangten ab 1989 nach Moskau und wurden in einer ersten Phase unter Boris Jelzin zum Teil öffentlich gemacht, namentlich jene über die tschechoslowakischen Mitarbeiter*innen des Staatssicherheitsdienstes.

 

Heute wird alles wieder geheim gehalten. Die Kardinalfrage lautet: Wie gelang es den involvierten ehemaligen KGB-Kreisen, diese Vorgänge so lange geheim zu halten? Einem Vergleich zur KGB-Geheimhaltungspolitik hält nur der Vatikan mit den römischen Archiven stand. Klar ist auch, dass seit dem Beginn der KGB-Herrschaft von Juri Andropow 1967 die universitären Systeme im Osten geheimdienstlich definitiv unterwandert waren. Analogien zu den Universitäten im Westen drängen sich auf. Wissenschaft als Teil des staatlichen Machtapparates. Andropow war auch der Wegbereiter in der Politkarriere von Michail Gorbatschow mit seiner Glasnost. Einerseits Klarheit und Offenlegen-Strategie für die breite Bevölkerung, andererseits mehr Verschluss und Geheimdienst für die staatlich geförderten langfristigen Aktivitäten von hoher bis höchster Bedeutung. Das KGB dachte und handelte nachhaltig. Auch seine Nachfolgeorganisationen (u.a. FSB) tun dies bis heute.

 

Die systemische Beeinflussung der deutschen Politik vor und nach Ende der DDR, mit den Bundekanzlerschaften Schröder (Gazprom) - Merkel (Nordstream 2) – Scholz (JUSO / DDR-Vergangenheit) gehörte dazu. Nur ein Rückblick in dieser Spur: Die Ausspionierung von Bundeskanzler Willy Brandt im Jahre 1974 durch den DDR-Agenten Günther Guillaume war zwar ein Eigentor für den Ostblock gewesen und schadete kurzfristig der angedachten Strategie von Stasi und KGB, um die Kanzler:innenschaft der BRD im Zaun zu halten und nachhaltig zu beeinflussen.

 

Andererseits zeigten auch die USA noch lange nach 1945 Bedenken gegenüber einem Vereinten Deutschland (BRD und DDR). Georg erinnert sich an ein Meeting der OECD-Finanzexperten anno 1987, als der USA-Vertreter meinte: "Die DDR darf nicht der Bundesrepublik zugeschlagen werden - egal wie das rauskommt. Sonst haben wir das alte Problem mit einem dominanten Deutschland in Europa wieder."

 

Zeitgeschichtliche Umbrüche

 

Mit einem Putsch (19. – 22. August 1991) gegen Michail Gorbatschow versuchten konservative Zöglinge und Apparatschiki aus der KPdSU, das Gesetz des Handelns an sich zu reissen. Auch der damalige Chef des KGB war dabei. Der Putsch auf Anhieb misslang, da es in Moskau und St. Petersburg zu Massenkundgebungen kam. Das worst case war für den KGB entstanden, die Kontrolle über breite Teile der Bevölkerung schien verloren zu gehen. Zwei Tage später, am 24. August 1991 trat Gorbatschow – faktisch von Jelzin entmachtet - zurück. So setzte der Zerfall der UdSSR ein, und es entwickelte sich ein Prozess, in dessen Zentrum vorerst Jelzin stand. Eine temporäre Schlüsselfigur.

 

Die Präsidenten der Russischen Föderation (Boris Jelzin), von Belarus und von der Ukraine hielten in den Belowescher Vereinbarungen am 8. Dezember 1991 bei Wiskuli (Belarus, nahe der polnischen Grenze) in einem Dokument fest, dass die Sowjetunion ihre Existenz beendet hatte. Sie unterzeichneten das Gründungsdokument der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Diese Vereinbarung wurde in Abwesenheit von Michael Gorbatschow (Union der Sowjetrepubliken), und nur unter drei von 15 ehemaligen Sowjetrepubliken getroffen. Der Inhalt des Abkommens wurde am 21. Dezember 1991 in der Erklärung von Alma-Ata von den Vertretern der Erstunterzeichnerstaaten sowie Vertretern von Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Republik Moldau, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan bestätigt.

 

Am 5. Dezember 1994 kam es in Budapest (Ungarn) zur Unterzeichnung eines sehr bedeutenden Memorandums über die atomare Abrüstung - für die Zukunft einiger Staaten, die sich aus dem Verbund der UdSSR gelöst hatten. Signatarstaaten der gebenden Länder waren die USA, Grossbritannien und die neu gegründete Russische Föderation. Als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht wurden die territorialen Integritäten von Kasachstan, von Belarus und der Ukraine völkerrechtlich garantiert. Und dies auf der Grundlage der Schlussakte von Helsinki, der Charta der Vereinten Nationen und des Atomwaffensperrvertrages. Frankreich und China gaben zudem eigene Sicherheitserklärungen für die Ukraine ab. Es stellt sich schon die Frage, weshalb die oben genannten, ab 1994 eindeutig engagierten Staaten nach dem ersten Völkerrechtsbruch der Russischen Föderation anno 2014 mit der Annexion der ukrainischen Krim gegenüber nichts unternahmen.

 

Durch den russländischen Finanzcrash nach 1997/1998 verlor der Westen sehr viel investiertes Geld. Vor allem Juden und Jüdinnen wurden mit ihren angelegten Gütern aus dem Wirtschaftssystem entfernt. Georg sagt: Der Finanzcrash hatte auch stark antisemitische Züge. Kurz vor dem Finanzcrash durfte ein Referent für eine Tagung des Forum Ost-West nicht in die Schweiz fliegen. Sein Abflug wurde noch auf dem Flughafen durch die Nachfolgeorganisation des KGB (andere Namen, gleiches Herrschaftssystem) gestoppt. Offenbar wusste er zuviel. Illarionov hatte das Institut für Wirtschaftsanalyse gegründet und war von 1994 bis 2000 dessen Direktor. Illarionov sagte die Finanzkrise von 1998 voraus.

 

Im Zeichen eines internationalen Entspannungsversuches unterzeichneten die NATO und die Russische Föderation am 27. Mai 1997 in Paris eine völkerrechtliche Absichtserklärung zwischen der NATO und der Russischen Föderation. Es entstand der NATO-Russland-Rat, der noch vordergründig bis kurz vor der 2. Ukraine-Invasion Russlands im Frühjahr 2022 funktionierte.

 

In die Zeit der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts fiel auch der langsame politische Aufstieg von Putin zum Ministerpräsidenten, dann ab 2000 zum Staatspräsidenten der Russischen Föderation. Putins Karriere wurde vom einstigen KGB bestimmt.

Dieselben Kreise sorgten auch für die russländische Infiltration des Westens mit seinen Demokratien durch machtvolle rechtsnationale bis rechtsextreme Gruppierungen und ihre Medien, so in Frankreich, Grossbritannien, Italien und Deutschland, auch in der Schweiz. Zahlreiche Organisationen, neue gegründete Medienportale, dann vor allem die Banken wurden ebenfalls von diesen kriminellen Kräften infiltriert. Aufbau einer effizienten fünften Kolonne auch über die Meinungsbildung.

 

Zersetzung und Rücktritt von Jelzin

 

Jelzin war der erste demokratisch gewählte Präsident der Russischen Föderation. Doch der russländische Interimspräsident stand nun selbst im Visier. Die Persönlichkeit von Jelzin, des direkten Auflösers der Sowjetunion, musste nach erprobter Geheinmdienstmanier zersetzt werden. In einer verdeckten Aktion zermürbten die Nachfolgeorganisationen des einst sowjetischen KGB den Einfluss Jelzins mit einem - öffentlich bei Staatsempfängen zur Schau getragenen - schweren Alkoholismus.

Nachhaltig und mittelfristig wurden Prestige, Ansehen und somit die öffentliche Machtgrundlage bis zur Unerträglichkeit zerstört. Der Rücktritt Jelzins erfolgte per 31. Dezember 1999. In einem Narrativ eines später entstandenen russländischen Anti-Jelzin-Video (ediert von Russische Welt, RT = Russia Today) heisst es unmissverständlich: Ein Alkoholiker und Versager gegenüber dem russländischen Volk trat ab. Sein einziges Verdienst war es, dass er Putin als Nachfolger bestimmt hatte. https://www.youtube.com/watch?v=RULik9qsUTM

 

Das Jahr 2000 begann folgenschwer: Der relativ junge Ex-KGB-Offizier aus der DDR, Wladimir Putin konnte die Nachfolge Jelzins antreten. Aus der Sicht des KGB ein durchschlagender Erfolg. Jelzins Nachfolger, stets beseelt vom Klassenhass aus der Zeit der gegen Hitlerdeutschland siegreichen Sowjetunion, möchte bis heute mit seinem Geschichtsrevisionismus die zerfallene UdSSR wieder herstellen, dank einer nationalistischen und faschistischen Expansionspolitik der Russischen Föderation. Oder um es mit einem RT-Propagandavideo mit dem einstigen Klassenfeind-marxistisch-leninistischen Jargon so zu formulieren: «Aus einem Land, welches am Boden lag und kurz vor dem endgültigen Zerfall stand, machte er in nur 15 Jahren eine Großmacht, die nun wieder eine ernsthafte existenzielle Gefahr für die Globalisten und US-Imperialisten darstellt.» Zitat Ende. https://www.youtube.com/channel/UCFQB9ywP3oVAfXHjz4E8aeA

 

Die Russische Föderation setzte mit der offiziellen totalen Machtübernahme des einstigen KGB-Offiziers, der von Dresden (DDR) Richtung NATO operierte, rasch jene Usanzen fort, wie sie das einstige Osmanische Reich praktiziert hatte. Den Vasallenstaaten wurde vordergründig eine relative Autonomie gewährt. Sobald aber die zentrale Herrschaft sich bedroht fühlte, griff sie auf die diese zurück und requirierte in ihnen die dringend benötigten Soldaten. Die Vasallen mussten nur hin und wieder gehorchen, dann aber absolut. Wenn sie das nicht taten, griff die Zentralmacht grimmig durch und bestrafte. Das bedeutete stets Liquidation, Vernichtung von Menschen, aber auch Vernichtung ihrer Kultur, ihrer Akten letzthin. Schreibende, Schriftsteller:innen, Journalist:innen waren daher besonders gefährdet von diesem osmanischen Herrschaftssystem. Einmal mehr galt das Prinzip: Friede ist Fortsetzung des Krieges. Dieses Konzept entsprach auch den langfristigen strategischen Zielen des internationalen Marxismus-Leninismus, der Eroberung der Weltherrschaft im globalen Klassenkampf, die immer noch in den Köpfen der ehemaligen KGB-Kader herumgeisterten.

 

Nun stellt sich die zentrale Frage: Warum versuchte die Europäische Union (EU) nicht, ein Freihandelsabkommen mit der Russischen Föderation einzugehen? Auch die Verhandlungen Schweiz-Russische Föderation in dieser Sache wurden aufs Eis gelegt. Denn die Russische Föderation wollte nicht auf die Zölle für Erdgas und Erdöl verzichten. Trotz allem nahm die EU in der Folgezeit ihren friedenstiftenden Einfluss auf die Beitritts-Kandidaten in Mitteleuropa wahr. Ihre Politik beruhte immer noch auf den Bereichen Kohle, Stahl, Landwirtschaft und gewährte Frankreich Privilegien. Verpasst wurde der Anschluss an das IT-Zeitalter. Die Folge war, dass die Russische Föderation ab 2000 hier der EU eine Nase voraus sein konnte. Es kam zu keiner Entrümpelungsaktion in Brüssel. Die EU hatte nun viel nachzuholen im Wettbewerb mit China. Noch nicht gelöst ist die Rolle der kleinen Staaten, mitunter der Schweiz im unierten Europa.

 

Postsowjetische neue Abgründe

 

Am 24.Februar 2022 überfiel die Russische Föderation die unabhängige Ukraine nochmals - nach 2014 ein zweites Mal. Die rechtsnationalen Szenen in den westeuropäischen Staaten brachten Verständnis für diese kriminelle Aktion auf. Innenpolitisch hatte sich in der Russischen Föderation ein faschistischer Nationalismus mit dem entsprechenden Personenkult und strengster Zensur in der öffentliche Meinung durchgesetzt. Dieweilen in der demographischen Entwicklung der Russischen Föderation zusätzliche Spannungen herrschten. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung wuchs rasant. Gegen 20-30% der Russländer:innen sind heute islamischen Glaubens.

 

In Kasachstan war einst das sowjetische Atombombenarsenal entstanden. Noch heute ist das unabhängige Land von zentraler strategischer Bedeutung für die Russische Föderation, wenngleich noch Altlasten der Atomwaffenproduktion in Semipalatinsk weite Gebiete verseuchen. Und dieses Problem dringendst einer internationalen Lösung bedürfte. Im nord-östlichen Kosmodrom Baikonur wurden seit 1957 sowjetische, später russländische Weltraum-Missionen auf dem A-Testgelände gestartet. Die Stadt Baikonur stand ab Ende 1994 unter einem Pachtvertrag der Russischen Föderation. Sie steht heute noch unter russischländischer Verwaltung und bildet daher einen eigenständigen Distrikt (Байқоңыр қаласы/Baiqongyr qalasy) innerhalb Kasachstans. Wenn Kasachstan nicht spurt, ist im Nu die Armee des Grossen Bruders dort. Ein Schicksal droht, wo wie es die Ukraine gegenwärtig ab dem 24. Februar 2022 erleben musste. Etwa als nächstes Ziel einer Strafaktion der Russischen Föderation: Es würde dann Kasachstan, von Putin «zur Vernunft gebombt» werden.

 

Aus dem Leben von Georg Dobrovolny

 

Nach diesem Ausblick nach Mittel- und Osteuropa und die hybriden Kriegsaktionen der Russischen Föderationen möchte ich auf die Frage eingehen, wie Georg zu einer solch profunden Kenntnis der Materie gelangen konnte. Georg wurde am 30. September 1943 in einem Dorf von Mähren (CSSR) als erstes von fünf Kindern geboren. Die Staatspolizei verhaftete seinen Vater, einen aufgeschlossener und westlich orientierter Kolonialwarenhändler 1951 und verdammte ihn zu einer langjährige Lagerhaft in einem böhmischen Erzbergwerk, das Uran für die sowjetische A-Bombe förderte. Die Familienmutter musste – um die Familie zu ernähren – Lohnarbeit leisten. Georg übernahm als ältester Sohn die Rolle des Vaters mit schwerster körperlicher Arbeit in Haus und Hof. Mit 15 Jahren bekam er eine Stelle in einem Lokomotivdepot, sodann bei Tesla, einer Firma für Elektroniktechnik in Prag. Dies ermöglichte ihm das Abendstudium. Das Prinzip learning by doing beseelte ihn früh und trug viel zu seiner persönlichen Entwicklung zum Experten für komplexe Aufgaben bei.

 

Im Gespräch erinnerte Georg an seinen Lebenslauf und die Tätigkeiten, die ihm als politischem Flüchtling ab 10. September 1968 in der Schweiz ermöglicht wurden. Es ist auch eine Zeitgeschichte der Schweiz, die damals versuchte, sich aus ihrer geistigen, wirtschaftlichen und politischen Erstarrung zu lösen und in einem ersten Schritt – erfolglos zwar - im gemeinsamen Europa zu integrieren. Ein Beispiel dazu:

 

Am 22. Juli 1972 wurde in Brüssel ein Freihandelsabkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft abgeschlossen. Am 3. Dezember 1972 hiessen Volk und Stände die Vorlage gut. Das Abkommen trat per 1. Januar 1973 in Kraft. Es beinhaltete auch den wichtigen Markenschutz. Zwei separate Handelsabkommen gehörten zu diesem ersten bedeutenden wirtschaftspolitischen Deal Schweiz-EG.

 

Das Institute of International Finance, Inc. (IIF) ist eine globale Vereinigung von Finanzinstituten. Im Jahre 1985 gab es 20 Expert:innen, darunter war auch Georg, welcher von der damaligen SGB (Schweizerischer Bankverein, heute UBS) ausgeliehen wurde. In dieser Funktion wurde er schon im Mai an eine Tagung in Ungarn eingeladen. Es ging um das Thema der Konvertierbarkeit von Ost- und Westwährungen, um den Transfer Rubel - Dollar. Ein Vertreter der ungarischen Nationalbank betonte gegenüber Georg, dass man sich auf dem Weg zur Marktwirtschaft befinde.

 

1986 wurde Georg wissenschaftlicher Mitarbeiter des ehemaligen BAWI (Schweizer Bundesamt für Aussenwirtschaft), welches Professor Franz Blankart leitete. Georg war zuständig für die Länder Osteuropas (zum Beispiel Polen und Rumänien). Umschuldungen als Thema. Beobachtende Teilnahme an Arbeitsgruppen der OECD in Paris als Finanzexperte.

Georg arbeitete sodann ab 1988 mit Walter Fust bei der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung (Office Suisse d’Expansion Commerciale = OSEC) zusammen. Die OSEC war eine Organisation, welche die Aussenwirtschaft der Schweiz und von Liechtenstein förderte. Sie finanzierte sich aus Mitgliedsbeiträgen und Zuschüssen der Eidgenossenschaft. Zwischen 1988 – 1992 Aufbau des EURO-Dienstes und des Bulletins EURO-Info mit Aktualitäten aus der Wirtschaft, Angeboten von Schulungs-Referaten. Ein Jahresabonnement kostete 90.- Fr. Bezüger:innen waren Hochschulen, Unternehmen, Private, eidgenössische Amtsstellen, aber auch die EG-Zentrale in Brüssel etc.

 

Auch Informationen zu den sogenannten Acquis communautaires (Rechtliche Besitzstände der damaligen EG) bot Georg auf Mikrofichen an. Damals gab es noch kein Internet. Für die Aktualisierung der Daten war eine nähere Verwandte (Schwägerin) behilflich, die in der EG-Verwaltung als Übersetzerin arbeitete. So vermittelte Georg einem interessierten Publikum den direkten Zugang zu den europäischen Instanzen und führte zu einem Weg, der nicht über die schweizerischen Bundesbehörden und ihre Verwaltung ging. Alle Infoquellen der EG wurden direkt angezapft.

 

Georg wirkte in der OSEC als Delegierter für Europa, Nachdem 7 Verträge für die Verteilung der EURO-Infos erfüllt worden waren, bemühte sich das Integrationsbüro der Schweizerischen Bundesverwaltung ab dem 8. Vertrag um den Dienst.

 

Die Sache mit dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR)

 

Bereits im Jahre 1984 strebte die Schweiz eine aktive Teilnahme am Aufbau Europas an. Sie unterzeichnete die Erklärung von Luxemburg, in der EFTA und EG ihren Willen zu einer über den Freihandel hinausgehenden Zusammenarbeit festlegten. Über 10 Jahre lang hatte man sich bemüht, ein Versicherungsabkommen zu finden. Jacques Delors übernahm 1990 für die EG diese Idee. Auch in den Turbulenzen der sogenannten Wende in Mittel- und Osteuropa suchte die Schweiz einen neuen wirtschaftspolitischen Weg.

 

Zur Debatte standen zusehends eine erweiterte Zusammenarbeit in den Bereichen Waren, Dienstleistungen (auch Kapital), sodann die Übernahme von europäischen Richtlinien in die nationale Gesetzgebung und der freie Personenverkehr. Georg vertrat die Ansicht, dass die europäische Normenlobby mit der Abstützung jenes Wertesystems in der ECE, das hiess im Geltungsbereich der UNO transnational am besten angesiedelt wäre. Die UNECE in Genf, Teil des United Nations Economic and Social Council (ECOSOC), arbeitete seit Ende den 60er-Jahren vorigen Jahrhunderts an der grenzübergreifenden Harmonisierung von technischen Regelungen.

 

Am 18. Mai 1992 beschloss der Schweizerische Bundesrat, der EG (Europäische Gemeinschaft, heute EU) ein Gesuch zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einzureichen. Er preschte damit vor, erreichte aber viel Opposition. Der damalige SVP-Nationalrat Christoph Blocher und andere Unternehmer nahmen den Kampf gegen ein Gesetzesprojekt für einen EWR (Europäischer Wirtschafstraum) eifrig auf. Georg organisierte eine Delegations-Reise nach Brüssel am 2. September 1992 und half somit, die Beziehungen zu Westeuropa zu festigen. In einer Referendumsabstimmung vom 6. Dezember 1992 wurde das Gesetzesprojekt für einen EWR vom Schweizer Volk mit einer hauchdünnen Mehrheit von 21’ 000 Stimmen verworfen.

 

Tätigkeiten des Forums Ost-West

 

Aus einem Gespräch mit Georg wurde deutlich, wie es nach Schliessung des Schweizerischen Ost-Institutes (SOI) per Ende 1994 gelang, den freiheitlich-marktwirtschaftlichen Dialog in die einstigen Ostblock-Staaten zu tragen.  https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerisches_Ostinstitut. Er gründete dazu im Mai 1994 das Forum Ost-West (FOW). Dieses förderte als unabhängiger auf Mittel- und Osteuropa sowie Zentralasien spezialisierter Verein ab Oktober jenes Jahres die interkulturelle Kommunikation und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit. Siehe auch Dokument im Anhang. https://www.forumostwest.ch/ueber-uns/

 

Bald stellte sich die Frage, welche Zielgruppen durch die Tätigkeit des FOW angepeilt werden sollten. Es ging um den Know-How-Transfer im Bereich des geistigen Eigentums. Einseitigkeit herrschte vor. Warum wurde etwa die Uhrenmarke ROLEX aus der Schweiz patentiert, nicht aber das PILSNER BIER aus der Tschechoslowakei? Schon 1976 war zwischen der Schweiz und der CSSR ein bilaterales Markenschutz-Abkommen («Bier-Käse») abgeschlossen worden. Aber in der staatssozialistischen Planwirtschaft waren Neuerungen, Erfindungen, Kreativität unerwünscht. Denn Neues stellte die Norm und hiermit die Planwirtschaft in Frage, konnte den unerwünschten internen Wettbewerb gar anspornen. Seit 1993 versuchte Georg, der Partner:innen in Mittel- und Osteuropa beizubringen, wie sie geistiges Eigentum schützen konnten.

 

Bereits das Schweizerische Ostinstitut (SOI) hatte in der Zeit des Kalten Krieges belastbare Kontakte nach Mittel- und Osteuropa gefördert. Es erschien der «Schweizer Bote» in deutscher und russischer Sprache. Redigiert von Georg Bruderer, der mit einer Russin verheiratet war. Was wiederum den schweizerische Geheimdienst dazu brachte, ihn der Spionage zu verdächtigen. Das war eben die Atmosphäre des Kalten Krieges in der Schweiz. Auch durchaus nicht-linke Bürger:innen und Einwohner:innen wurden sehr leicht grundlos verdächtigt. Die diffamierenden Thesen des schweizerischen Zivilverteidigungsbüchlein von 1969 wirkten nach.

 

Mein persönlicher Beitrag

 

Last but not least darf ich auch mich selbst vorstellen: Vom Mai bis Oktober 1994 konnte ich unter Leitung von Georg im Schweizerischen Ost-Institut (SOI) in Bern Länderbroschüren über Mittel- und Osteuropa herstellen. Das Thema faszinierte mich. So entstanden für das BIGA (heute seco) Dokumentationen über die Tschechische und die Ungarische Republik. Gleichzeitig wurde ich Zeitzeuge der Auflösung des von Dr. Peter Sager gegründeten Schweizerischen Ostinstitutes (SOI). Es war im Kalten Krieg mit seiner Osteuropabibliothek ein wichtiges Zentrum der antikommunistischen Gegeninformation gewesen.

 

Zwischen August 1995 und August 1996 erarbeitete ich sodann im BIGA (heute seco) Länderbroschüren über die Slowakei, Bulgarien, Slowenien, Rumänien und Ungarn (Abschluss der im SOI begonnenen Arbeit). Die Akten- und Faktenlage war dünn bis nicht existent. Vor allem eine unabhängige Geschichtsschreibung existierte in jenen frei gewordenen Ländern kaum. Ich erhielt von den Schweizer Behörden explizit die Erlaubnis, mit den diplomatischen Vertretungen der entsprechenden Länder in Bern zu arbeiten und kam so – nebenbei bemerkt – auch in Kontakt mit dem 1. Botschaftssekretär Rumäniens. Der mir freimütig erzählte, wie er bei den Unruhen im Dezember 1989 als Armeekommandant den Platz vor dem Zentralkomitee der RKP in Bukarest absperren musste und den Befehl, auf die Demonstrierenden zu schiessen, nicht ausführte. Es wurde eng für Nicolae Ceaucescus, dieser floh mit einem Helikopter vom Dach des ZK-Gebäudes. Aber er kam bekanntlich nicht weit.

 

© Paul Ignaz Vogel

(12.12.2022 / 14.04.2023)

 

 

*** 

 

Mit dem «Forum Ost-West»

wird Bern zum Friedensstifter

Pressegespräch am 24. Juni 1994 in Bern

Kurzreferat von Dr. Georg Dobrovolny

 

Fünf Jahre nach der Wende in Osteuropa und drei Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion präsentiert sich ein weltpolitisch labiles Bild: Die Gefahren sind zwar erkannterweise gestiegen, die Chancen jedoch verkannterweise auch. Und manches an heutiger Unzufriedenheit und kriegerischer Auseinandersetzungen enthält das Element verpasster Gelegenheiten – dies gilt besonders für die souveräne und neutrale Schweiz.

 

Das ist abrupt, aber nicht von ungefähr gekommen, gerade auch, was den Westen betrifft. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems sah dieser prioritär die Zeit der Marktwirtschaft für den Osten gekommen. Die falschen Erwartungen aufgrund gegenseitiger Ignoranz sowie die Altlasten belasten das Ost-West-Verhältnis.

 

Für weite Teile der Bevölkerung in Mittel- und Osteuropa blieb der erhoffte Segen aus. Das hat unter anderen den restaurativen Kräften Gelegenheit gegeben, die Rollen zu vertauschen. Sie haben die schwierige Erbschaft zu verantworten, schieben aber dem Westen die Schuld zu. Daher überrascht es uns nicht, dass in diesen postkommunistischen Staaten bisher unterdrückte Probleme und Spannungen virulent zutage treten. Aus einigen Kommunisten sind unverfrorene Kapitalisten geworden, die sich dem Westen als Partner anbieten. Der «roten Mafia» geht es nicht um eine neue sozialistische Ordnung, sondern um Verhältnisse, in denen sie nach Belieben auf Kosten der Bevölkerung und der verheissenen Demokratie schalten und walten kann.

 

Und das wiederum führt im Westen zur Diagnose «hoffnungslos bankrott etc.» Diese Diagnose ist falsch und schädlich, denn sie provoziert Trotzreaktionen und fördert den Nationalismus. Das gilt insbesondere für Russland. Während viele im Westen bloss das «Fass ohne Boden» sehen, verpassen sie die sich bietenden Chancen wahrzunehmen, geschweige denn die Verantwortung der Demokraten. Jedoch wohlbemerkt, das erzwungene Einheitsbild des Sowjetlagers lässt sich nicht durch ein Mosaikbild von Trümmern des alten Imperiums ersetzen.

 

Man kann die Nationalismen schlecht bekämpfen, ohne die Gegebenheiten der Länder, Völker und Kulturen sehr gut zu kennen. Das bezieht sich auf das ehemalige Jugoslawien so gut wie auf die Ukraine. Diese, so gross wie Frankreich, ist im Westen praktisch terra incognita. Die mitteleuropäischen Staaten wiederum, einschliesslich der baltischen Länder, sind trotz ihrer jüngsten Geschichte den westeuropäischen Ländern verwandter als etwa der kaukasische Staat Georgien. Dieser hat wiederum mehr als Tadschikistan mit unserem Kulturkreis gemeinsam.

 

Die neue Wahrnehmung des Ostens erfordert kundige Kleinarbeit und Sprachkenntnisse auf allen Ebenen – was lernt man heute schon darüber in unseren Schulen? Wird lediglich ein Marketing betrieben, so schadet es sehr bald sogar den Wirtschaftsinteressen, wie die letzten Jahre gezeigt haben. Die Kenntnis von Geschichte und Kultur der mittel- und osteuropäischen Länder ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit für die westlichen Nachbarn. Sie gehört zum Zusammenleben in Europa sowie zu jeglicher Zusammenarbeit, die über den Tag hinaus gehen soll. Dann, erst dann, fördert das Wissen über unsere Nachbarn auch das Business und vor allem den Frieden.

 

Schliesslich gehört das gegenseitige Verständnis zur Friedensförderung, zur Konfliktverhinderung und Konfliktüberwindung – also jenen Bestrebungen mithin, denen sich ein Land wie die Schweiz besonders verpflichtet fühlt. Um frühzeitige Begegnungen ausserhalb der Verhandlungsrunden von Repräsentanten verfeindeter Staaten und Gruppen zu initiieren, braucht es Organisationen, die zum Beispiel ein konkretes Anliegen oder Projekt voranbringen, gleichzeitig interdisziplinär wirken und Protagonisten einfach als Menschen zusammenführen. Ein solches Forum gab es bis vor kurzem in der Schweiz nicht. In einigen Ländern, wie vor allem in Österreich, gibt es mehrere Institutionen, die sich dieser Thematik widmen. In der Schweiz formiert sich das Forum Ost-West, das in Übereinstimmung mit seinem Namen bereit ist, Aufträge von Behörden, Gruppierungen und Firmen entgegenzunehmen, die sich für den ernst genommenen Osten nicht nur interessieren, sondern die sich immer noch bietenden Chancen in Mittel- und Osteuropa nutzen wollen. Die Stadt Bern ist zum Standort eines solchen Forums prädestiniert.

 

Das Forum Ost-West (FOW) mit Sitz in Bern will einen Beitrag zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Ost und West leisten, indem folgende Zeile verfolgt werden:

1 Präventive Konfliktverhinderung: Vertreter von Minderheiten und potentiellen Konfliktparteien werden zum Dialog zusammengeführt.

2 Plattform für Begegnungen, anlässlich derer Persönlichkeiten aus Mittel- und Osteuropa ihre Ideen präsentieren können und Bedürfnisse der mittel- und osteuropäischen Staaten diskutiert werden.

3 Drehscheibe für die Ost-West-Zusammenarbeit: Informationen zu Projekten und Aktivitäten werden systematisch erfasst. Basierend darauf können im Rahmen von Workshops und Schulungen Erfahrungen ausgetauscht sowie Einsätze von Experten und Stagiaires stattfinden. Einsätze in Mittel- und Osteuropa erfolgen nach einer Vorbereitung auf die dortigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Erfahrungen damit haben wir im Rahmen eines Vorprojekts zum Pilotprojekt «Pionier sein statt stempeln» gesammelt.

 

In dem bisher gegebenen Rahmen haben wir Vorleistungen erbracht, an die angeknüpft werden kann. Einige Beispiele: Die Seminare in Bern und Prag ermöglichten schon mehrfach, dass sich Tschechen und Slowaken nach der Trennung unbefangen begegnen konnten; bei der Auswahl von Stagiaires aus den Osteuropastaaten haben wir uns um Ausgewogenheit bemüht; bei den Gesprächen am «Runden Tisch» hatten wir, ausser Russen und Ukrainer, nacheinander, verschiedentlich sogar miteinander, Serben, Kroaten, Bosnier als Gäste am selben Tisch vereint. Den persönlichen Kontakten in der ehemaligen Sowjetunion schenken wir eine besondere Aufmerksamkeit.

 

Es ist ein nicht selten vorkommender Irrtum zu glauben, dies alles gehe vonstatten ohne fundierte Vorbereitung, ohne Wissen, Studien und Beobachtungen der Entwicklungen in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Im wohlverstandenen Interesse westlicher Demokratien sind daher frühzeitige Vermittlungsbemühungen grösster Anstrengungen wert. Mit dem Forum Ost-West (FOW) signalisieren wir, dass Brückenschlagsaktivitäten immer noch möglich und nötig sind. Das Forum Ost-West (FOW) steht allen offen, die in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit die einzige Zukunft sehen.