Schweizer Beitrag im Kampf gegen den «jüdischen Bolschewismus»
Auch die deutsche Wehrmacht war im Zweiten Weltkrieg in schwerste Menschheitsverbrechen verstrickt. Als sie in die Gebiete von Mittel- und Osteuropa Richtung Moskau vorrückte, schickte das Schweizerische Rote Kreuz in antikommunistischem Eifer eine Ärzte-Mission an die Ostfront - auf Seiten der Nazis, um den Kampf gegen den «jüdischen Bolschewismus» tatkräftig zu unterstützen. Grund genug, diese Mitschuld in die eidgenössische Gedenkkultur mit einzubeziehen.
Von Paul Ignaz Vogel
Motto: Es ist bemerkenswert, dass im Berner Fortbildungskurs Mitglieder der Ärztemission übe ihre kriegsmedizinischen und -chirurgischen Erfahrungen berichteten, obschon das Gründungskomitee und das deutsche Oberkommando des Heeres (OKH) den Missionsteilnehmenden verbot, der Öffentlichkeit mündlich über in Russland Erlebtes zu berichten.
(Von der Geselligkeit zur Standespolitik;
200 Jahre Ärztegesellschaft des Kantons
Bern, hrsg. 2008 / über 1942/1943, S. 127)
*
Es ist altbekannt, aber zeitgeschichtlich immer noch von allergrösster Bedeutung: Um den Zweifrontenkrieg im Ersten Weltkrieg zu beenden, hatte der deutsche Generalstab 1917 die Idee ins Spiel gebracht, im feindlichen Russland einen Umsturz zu organisieren. Mithilfe der Schweiz fuhr das kriegsführende Deutschland Lenin, den kommunistischen Revolutionär aus Zürich, per plombierten Eisenbahnwaggon nach St. Petersburg. Die Eidgenossenschaft war erleichtert über den Export eines künftigen Gefahrenpotenzials. In den Ereignissen des Generalstreiks spitzte sich die soziale und innenpolitische Lage der Schweiz zu. Am 12. November 1918 wurden die Sowjetdiplomaten aus Bern ausgewiesen und in ihre Heimat zurückgeschickt. Man beschuldigte sie schweizerischerseits der Anstiftung zur Aufruhr.
Nach 1918 kam es in der Schweiz zu starken antikommunistischen, bald antisowjetischen und stets antisemitischen Strömungen. Christian Koller schrieb in der im Schweizerischen Sozialarchiv Zürich abgelegten Studie «Die Schweiz nach der Russischen Revolution. Antikommunismus als politische Maxime»: «Bereits ein geheimer Lagebericht der Nachrichtensektion des Generalstabs vom Oktober 1919 sprach über die angeblich wachsende Bedeutung der „Judenfrage“ und betonte, der Delegierte des sowjetischen Roten Kreuzes in der Schweiz habe „einen Anhang von Juden» um sich, „die als notorische Bolschewisten bekannt sind und mit denen mehr oder weniger anständige Russen nichts mehr zu tun haben wollen“. 131) Die Spannungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion nahmen zu. Ein verarmter Auslandschweizer, ein weissrussischer Kämpfer aus einer enteigneten Familie von St. Petersburg erschoss 1923 in Lausanne anlässlich einer internationalen Konferenz einen Sowjetdiplomaten, einen persönlichen Freund Lenins. Ein antikommunistisch eingeheiztes Waadtländer Geschworenengericht sprach darauf den Täter «aus ideellen Gründen» frei. Der Mord wurde so zu einem Akt einer vom Gericht akzeptierten Selbstjustiz. Der schweizerische Bundesrat weigerte sich überdies, dem Herkunftsland des Ermordeten sein Beileid zu bekunden. Die UdSSR ergriff Boykottmassnahmen gegen das internationale Genf mit dem Völkerbund und liess die diplomatischen Beziehungen zur Schweiz ins Nichts laufen. Diese Situation dauerte bis 1946. 132)
Mit streng rechtsstaatlichen Ellen gemessen wurde hingegen das tödliche Attentat, das am 4. Februar 1936 der jüdische Medizinstudent David Frankfurter verübte. Er erschoss in Davos Wilhelm Gustloff, den Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz. Der Bundesrat kondolierte dem Dritten Reich, als sei ein Staatsmann verstorben. Frankfurter wurde von einem Bündner Gericht zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt. Fürsprecher Dr. Georges Brunschvig erwirkte gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als der Sieg der Alliierten feststand, die Begnadigung des Attentäters. 133)
Das Narrativ vom «jüdischen Bolschewismus»
Wie sehr in den Dreissigerjahren vorigen Jahrhunderts Antikommunismus mit dem Nationalsozialismus und dem Dritten Reich verbandelt waren, zeigt auch folgende Episode: Am 22.Oktober 1938 lud die Schweizerische Aktion gegen den Kommunismus zur Uraufführung des Films «Die rote Pest» ins Kino Capitol in Freiburg i.Ue. ein. Der 77 Minuten dauernde Streifen war im Deutschen Reich durch die Bavaria Film AG (München-Geiselgasteig) fertig gestellt worden. Dieses Studio stand unter der direkten Ägide des deutschen Propagandaministers und Filmförderers Dr. Joseph Goebbels aus Berlin.
Als Produzent des antikommunistischen Hetzfilmes zeichnete alt Bundesrat Jean-Marie Musy von der damaligen Katholisch-Konservativen Partei (KK, heute CVP). «Die rote Pest» zeigte die Vorzüge von Autoritarismus, Faschismus, die Schwächen der Demokratie, die Gefahr des Virus einer kommunistischen Revolution, mit brennenden Kirchen, Streiks und politischen Krisen. Für die Regie verantwortlich waren Franz Riedweg und Georges Duvanel. Franz Riedweg seinerseits fand 1938 einen direkten Draht zum Dritten Reich. Er trat als Schweizerbürger in die Waffen-SS ein, wurde deutscher Staatsbürger und heiratete die Tochter eines Generalfeldmarschalls der Wehrmacht.
Um die Chronologie zu wahren und abzuschätzen, was damals synchron ablief: Was geschah in der zweiten Jahreshälfte 1938 in Deutschland? Der Prozess der Entrechtung, der Enteignung und der Ermordung von Jüdinnen und Juden hatte in Deutschland voll eingesetzt. Am 9. November 1938 kam es zur vom NSDAP-Staat organisierten Reichsprogromnacht. Schlägertrupps zerstörten jüdische Geschäfte, Synagogen und andere Einrichtungen. Es war die Nacht, in der Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. 134)
Totale Vernichtung im Ostfeldzug
Adolf Hitler hatte schon im ersten Band seiner Schrift «Mein Kampf» die Erweiterung des Lebensraumes für die arische Rasse nach Osten gefordert. Ein Vernichtungsfeldzug nach Osten stand seit jeher auf dem nationalsozialistischen Programm zuoberst, mit der Plünderung aller Güter, der Unterwerfung zur Sklavenarbeit, der Vertreibung oder Ermordung der dort lebenden Bevölkerungen und einer Neuansiedlung von Deutschen bis zum Ural. 135)
Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht im sogenannten «Unternehmen Barbarossa» die UdSSR. Der angesagte Vernichtungskrieg hatte begonnen. Deutschland setzte den Terror ausserhalb des eigenen Staatsgebietes fort. Entfesselte Mächte des Todes traten auf.
Ein Blick zurück ins Jahr 1939, auf den Hitler-Stalin-Pakt wird nötig. Am 23. August 1939 schlossen beide Diktatoren einen Nichtangriffspakt ab, mit dem sie insgeheim das unabhängige Polen aufteilten. Hitler fiel am 1. September von Westen her dort ein, Stalin folgte zwei Wochen später von Osten. Stalin nutzte darauf ab April 1940 die Gelegenheit, um die polnische Intelligentsia zu beseitigen. In den Wäldern von Katyn nahe beim russischen Smolensk und anderswo massakrierte der sowjetische Geheimdienst NKWD fast 22’000 Polinnen und Polen.
Stalin ging von der Bündnistreue seines verbrecherischen Compagnons Hitler aus. Daher war der Einfall der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion 1941, dieser Bruch des Nichangriffspaktes, eine schwere Überraschung für den rechthaberischen sowjetischen Diktator. Von zwei Seiten aus, von Westen durch die sogenannte «Rote Kapelle» und von Osten aus der sowjetischen Spionage in Tokio war Stalin vor einem bevorstehenden Überfall gewarnt worden. Aber er misstraute seinen eigenen Geheimdiensten. 136)
*
«Die Spitze des Reiterspähtrupps hat das brennende Dorf erreicht, in dem der Feind harten Widerstand leistete. Das deutsche Artilleriefeuer hat den Feind versprengt, das Dorf ist feindfrei, die Infanterie kann weitermarschieren», heisst es in der Wehrmacht-Fotolegende zu einer Kampfhandlung, die am 16. Juli 1941 bei Mogilew am Dnjepr in der Sowjetunion stattfand.
Gleichentags eroberten flussaufwärts die deutschen Truppen die Stadt Smolensk am Dnjepr, fanden dort jedoch bereits temporär ersten vehementen Widerstand der überfallenen Russen. Diese verloren später die Kesselschlacht. Nach 26 Monaten deutscher Fremdherrschaft lebte in der vollständig zerstörten Stadt nur noch ein Viertel der bisherigen Zivilbevölkerung. Dort war es zu vielfältigen Gewalterfahrungen wie Plünderungen, Massenverbrechen und Exekutionen von Jüdinnen und Juden, Roma und Kriegsgefangenen gekommen. 137)
Schweizer Beitrag für die Täter: innenschaft
Nach Smolensk und ins besetzte Russland zog es im Herbst 1941 jedoch nicht nur die deutsche Wehrmacht, sondern auch eine Gruppe von Schweizerinnen und Schweizern, welche eine blaue Sonderuniform trugen und im Dienste des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) standen. Eingefädelt hatten diesen spektakulären Fronteinsatz Minister Hans Frölicher, Schweizer Gesandter in Berlin, und Oberstdivisionär Eugen Bircher, Aargauer Arzt und Politiker. Die Einsätze erfolgten in vier Phasen, begannen am 15. Oktober 1941 und endeten am 9. März 1943. Sie waren verortet in Smolensk, Stalino (dem heutigen Donezk), Saporischschja und Juchnow. Erste Mission: 15. Oktober 1941 bis 19. Januar 1942. Zweite Mission: 8. Januar 1942 bis 14. April 1942. Dritte Mission: 18. Juni 1942 bis 29. September 1942. Vierte Mission: 24. November 1942 bis 9. März 1943.
Bircher gehörte damals der Leitung des SRK an, das heute auf seiner Website die bittere Erkenntnis findet: «Der Entscheid, medizinische Teams aus der Schweiz an die deutsch-russische Front zu entsenden, lässt sich nicht mit rein humanitären Motiven begründen. Vielmehr ist darin die Willfährigkeit gewisser Kreise in der Schweiz gegenüber dem Dritten Reich und dessen antibolschewistischer Politik erkennbar.» Und so fährt das SRK in seiner heutigen Einschätzung fort: «Doch durch eine vertrauliche Vereinbarung, die Oberstdivisionär Johannes von Muralt (Präsident des SRK und des Komitees für Hilfsaktionen) mit dem Oberkommando der deutschen Wehrmacht abgeschlossen hatte, wurden die Freiwilligen ohne ihr Wissen der Befehlsgewalt der Wehrmacht unterstellt. Mit anderen Worten stellten sich die Schweizer Ärzte und Krankenschwestern, ohne sich dessen bewusst zu sein, in den Dienst des Dritten Reichs.»
Wikipedia schreibt in ihrer Eintragung zu Oberstdivisionär Eugen Bircher: «In der Kontroverse um die Zulassung jüdischer Flüchtlinge rief er 1942 an einer Versammlung aus: «Die Emigranten wollen sich bei uns eine wirtschaftliche Position erobern […] Sie werden ihr Gift ausstreuen. Sie bilden einen Fremdkörper im Volke, der wieder herausgeschafft werden muss.»
In einem Brief aus Bad Schuls-Tarasp-Vulpera, datiert vom 17. Juli 1941, hatte Minister Frölicher dem Chef der Division Auswärtige Angelegenheiten des EPD, P. Bonna, geschrieben: «Lieber Freund, nachdem ich die Frage der Entsendung einer Sanitätshilfe nach Deutschland mit Herren der Industrie und der Ärzteschaft besprochen habe, bin ich der Überzeugung, dass diese Aktion ohne besondere Schwierigkeiten sich durchführen lässt… Es käme keine öffentliche Aktion in Frage, sondern ein privates Comité würde die Organisation durchführen, die Finanzierung besorgen und die Durchführung der Mission überwachen.» 138)
In welche fatalen Gefilde sich die halboffizielle Schweiz mit ihrer Rotkreuzdelegation begeben hatte, wurde damit offenkundig. Aus der Chronologie des Holocaust erfahren wir, dass am 3. September 1941 im KZ Auschwitz versuchsweise sowjetische Kriegsgefangene und kranke Häftlinge mit Zyklon B ermordet wurden. Nach Aussagen des Lagerkommandanten Höss wurden bei einer weiteren Probevergasung, vermutlich ebenfalls im September 1941, 900 sowjetische Kriegsgefangene getötet. Zwischen dem 8. Und 9. Oktober 1941 erfolgte die weitere Einlieferung von 4200 sowjetischen Kriegsgefangenen.
Nach der Einnahme Kiews beschlossen am 27. September 1941 deutsche Okkupanten die Ermordung der Kiewer Jüdinnen und Juden. Mit der Durchführung wurde das Sonderkommando 4a beauftragt. In der Schlucht von Babi Jar erschoss dieses innerhalb von zwei Tagen fast 34.000 Personen.
Ganz in der Nähe von Smolensk – dem ersten Tätigkeitsgebiet der Eidgenossinnen und Eidgenossen in Rotkreuz-Uniformen – löschten die deutschen Besatzer das Leben von sowjetischen Jüdinnen und Juden aus. In der Ortschaft Monastyrschtschina im Oblast Smolensk gab es einen jüdischen Kolchos. Deutsche Mörder brachten am 8. November 1941 alle Jüdinnen und Juden, insgesamt 1008 Menschen, um. Die Erwachsenen wurden mit Maschinenpistolen erschossen, die Kinder lebendig begraben. 139)
Augenzeuge und Zeitzeuge
Dr. med. Rudolf Bucher, mit dem militärischen Grad eines einfachen Leutnants, berichtete in seinem erst 1967 erschienenen erschütternden Bericht «Zwischen Verrat und Menschlichkeit, von den Erlebnissen eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942». Das Narrativ von Bucher beginnt ganz harmlos und bieder: «Am 15. Oktober 1941 bewegte sich eine lange Kolonne einheitlich in Dunkelblau gekleideter Männer und Frauen, manche von ihren Angehörigen begleitet, in zwangslosen Gruppen dem Bahnhof Bern zu, um den fahrplanmässigen Zug Bern-Zürich-Berlin zu erreichen.».
Nach dem Empfang in Berlin, an den auch Minister Frölicher teilnahm, ging es einem reichdeutschen Lazarettzug an die Ostfront in Russland. Bei einem Zwischenhalt zum Wechsel der Dampflokomotiven kam Bucher ins Gespräch mit einem blutjungen SS-Angehörigen. Dieser zeigte in die Steppe auf einen frischen Erdhügel hin. Der SS-Mann: «Vor zwei Stunden haben wir dort drüben an die hundert umgelegt!». Die schrecklichen Erkenntnisse sollten sich für Bucher mehren.
In Smolensk besuchte die Schweizer Ärztemission die Kommandantur der Heeresgruppe Mitte, welche mit dem Sturm auf Moskau beauftragt worden war. Der Stab nutzte vor den Toren der Stadt in einem Birkenwald versteckte Wochenendhäuschen (Datschas). Eugen Bircher, Oberst-Divisionär der Schweizer Armee und Chefredaktor der Schweizerischen Militärzeitschrift, hielt eine kurze Ansprache, in der er festhielt: «Wir danken dem Führer, dass wir, die Schweizer Ärztemission, teilnehmen dürfen am Kampf gegen den Bolschewismus.»
Das nur schlecht Verborgene enthüllte sich immer mehr den Augen von Bucher. Bei einem Spaziergang mit einem Schweizer Kollegen zum Vergnügungspark von Smolensk sah er sechs jüngere Frauen, wohl gekleidet, teils in Pelzmänteln, teil mit Stöckelschuhen, wie sie die vereiste Erde aufpickelten. Bucher fragte den deutschen Unteroffizier, was hier denn geschähe. «Jüdinnen! Ein Transport aus Polen … Jetzt hat man sie verteilt. Das fällt weniger auf… Sie wissen ja … ach die armen Teufel, mir ist das Ding schon längst zuwider … Befehl ist halt Befehl!». Bucher ergänzte die Schilderung: «Als wir nach Tagen wieder an dieser Stelle vorüber mussten, sahen wir die zugedeckten Gruben mit der gebröckelten Erde darauf.»
Ein deutscher Arzt im Lazarett gestand Bucher, dass die russischen Gefangenen nach Befehl von Feldmarschall Keitel nicht nach der Haager Konvention behandelt werden dürften. Aber er berichtete von noch viel Schlimmerem. Bucher liess eine Bemerkung wegen der Erschiessung von Jüdinnen und Juden fallen. Da meinte der Gesprächspartner bitter und zornig: «Sie machen noch Schlimmeres als Erschiessungen …Haben Sie in der Schweiz noch nie von Auschwitz gehört? Sie wissen doch, Bucher, was sich im Getto von Minsk ereignete? Nicht nur in rollenden Gaswagen … in riesigen, extra für diesen Zweck erbauten Vergasungskammern werden jetzt, zu dieser Stunde, und wer weiss wie lange hinaus noch Tausende und aber Tausende von Juden vergast, vor allem Juden aber auch andere Insassen von Konzentrationslagern, Kommunisten und andere politische Gegner.» Bucher antwortete unter Anderem: «Das ist ja furchtbar! Nein, das ist, soviel ich weiss, in der Schweiz nicht bekannt.» Das Gespräch fand im frühen Januar 1942 statt.
Schliesslich beobachtete Bucher ein Massaker an unschuldigen Geiseln aus der russischen Zivilbevölkerung. Ein Landser war bei klirrender Kälte in eine russische Kolchosen-Hütte eingebrochen, betrank sich dort mit Wodka und wurde von Partisanen erschlagen. Bucher erfuhr rechtzeitig über einen Kollegen von der bevorstehenden Massenexekution als Racheakt und beschloss, Augenzeuge zu werden. So konnte er sich mit seinem Kollegen im Dunkel der Nacht hinter eine Mauer vor der zubereiteten Grube anschleichen. Die SS ermordete im Morgengrauen 62 vor einer Grube knieenden Geiseln, darunter auch Frauen, Mütter, Kinder mit je einem einzelnen Genickschuss. Arzt Bucher beschrieb seine eigene Reaktion nach dem beobachteten Massenmord in einer Selbstdiagnose: «Plötzlich fühlte ich es wie eine grosse, schwarze Hand auf mich niederfallen. Der innere Zusammenbruch liess schwindelnd meine Sinne erstarren. Mein Herz schlug blutlos gegen die Kehle.» Der verstörte Bucher wurde von einem Kollegen aus der Nähe der Hinrichtungsstätte zum Lazarett zurückgebracht. Er war dorthin gegangen, um später Zeugnis abzulegen. Was er später, 1967, in seinem Buch tat.
Nazis kämpften um Geheimhaltung
Im zweiten Teil seiner Veröffentlichung, in einem dokumentarischen Epilog entschlüsselte Bucher weitgehend auch das Who-is-Who im Verhältnis Nazideutschland-Schweiz. Er konnte nach Kriegsende, nachmittags am 29. Mai 1945 in der Empfangshalle des Hotels Schweizerhof in Luzern den ehemaligen deutschen Gesandten Köcher (war in Bern stationiert) noch vor dessen Freitod befragen. Bucher war nämlich nach Rückkehr ab 1942 von seiner schrecklichen Reise ins russische Smolensk von Bundesrat und von der Militärjustiz wegen seiner Vortragstätigkeit in der Schweiz dauernd kujoniert und zum Sillschweigen gedrängt worden. Es ist brisant, was der wissenschaftlich denkende Arzt Bucher in seinem Erinnerungsbuch bereits 1967 publizistisch zu Tage förderte und bewies. Das Netzwerk Schweiz-Deutschland hatte eine raffinierte Methode der verdeckten Kollaboration in den Eliten organisiert. Es lief offenbar so:
• Hochrangige Mitglieder aus Wirtschaft, Politik und Behörden der Schweiz konnten Infos über ihr Netzwerk («Freundschaft») direkt an den Schweizer Gesandten Frölicher in Berlin senden. Auf welchem Weg dies geschah, wurde auch Bucher nicht klar. Es ist jedoch die Annahme berechtigt, dass dies auf dem privat gekennzeichneten Weg («lieber Freund!») des EPD von Bern aus praktiziert wurde. Siehe als Beispiel Frölichers Brief vom 17. Juli 1941 an Bonna in Sachen Projektidee Rotkreuzmission Russland.
• Minister Frölicher lieferte Informationen (auch Kopien) der Berichte an die zuständigen Stellen der Nazibehörden in Berlin zur Stellungnahme.
• Diese stellten ihre Antworten / Befehle nicht an Frölicher, sondern direkt an die diplomatische Aussenstelle des Dritten Reiches, an den Gesandten Köcher in Bern zu.
• Köcher intervenierte darauf beim schweizerischen Bundesrat in jeder von den Schweizer Nazi-Gesinnungsgenossen angegangenen Sache. Diese Vorgehensweise betraf auch das Vertuschen der Tatsache, dass die SRK-Mission der Hoheit der deutschen Wehrmacht unterstand. Es galt Kriegsrecht mit der Todesstrafe. 140)
Die militärische Wende vor Moskau
Gegen das Jahresende 1941 war mit der Schlacht um Moskau ein Stillstand der Frontbewegung nach Osten eingetreten. Alles erstarrte bei einer Temperatur von minus 50 Grad Celcius. Die deutschen Truppen sassen eingefroren fest. Am 5. Dezember 1941 war die erste russische Gegenoffensive um Moskau angelaufen. Der Schweizer Lazarettarzt Bucher schrieb in seinem Buch über seine Beobachtungen hinter der deutschen Front: « Das Ende des Jahres 1941 entschied über den Krieg in Russland. Vor den Toren Moskaus zerbrach der Weltherrschaftsanspruch des Dritten Reichs.»
Doch Stalin sollte durch eine geheimdienstliche Quelle aus Tokio eines Besseren belehrt werden. Der sowjetische Diktator glaubte diesmal dem Informanten des sowjetischen Nachrichtendienstes und handelte strategisch und taktisch richtig. Die entscheidenden Informationen stammten von Dr. Richard Sorge, einem Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter, der früh Kommunist wurde, als Journalist arbeitete und Ende der Zwanzigerjahre vorigen Jahrhunderts in die Dienste der Ausland-Aufklärung für die Sowjetarmee trat. Ab 1930 agierte er für den Fernen Osten von Japan aus. Während des Zweiten Weltkrieges fand Sorge rasch Kontakte zur reichsdeutschen Botschaft in Tokio, denn er war zur Tarnung Mitglied der NSDAP geworden und pflegte beste Kontakte zum Militärattaché und zur Gestapo.
Wie sich die militärische Wende in der Schlacht um Moskau Ende 1941 aufbaute, umschrieb der ehemalige Chef der Auslandspionage der DDR, Markus Wolf in einem Bericht, den er 2004 publizierte. Wolf war ein deutscher Karrierekommunist, der den Zweiten Weltkrieg unter Stalin in der UdSSR überlebt hatte. Ein Zeitzeuge blieb er dennoch. Wolf: «So kam es zu Sorges Funkspruch vom 14. September 1941 nach Moskau: Die japanische Regierung wird die UdSSR nicht angreifen; sie ist vor einem Überfall im Fernen Osten sicher. Es war einer seiner letzten Funksprüche, dessen Bedeutung auch Stalin, der sich vor Moskau in einer verzweifelten Lage befand, nicht übergehen konnte. Teile der Fernostfront, ausgeruhte und gut ausgerüstete Einheiten, wurden eiligst nach Moskau verlegt. Dadurch trat bereits im November 1941 eine Stabilisierung der Lage ein… Hitlers Blitzkriegsstrategie war gescheitert.»
Sorge wurde kurz nach dem rettenden Funkspruch nach Moskau, am 28. Oktober 1941 von der japanischen Spionageabwehr verhaftet und am 7. November 1944 hingerichtet. Sorge hatte Stalin vergebens bereits vor dem Hitlerangriff des 22. Juni 1941, mit genauester Angabe des Datums gewarnt. Stalin lehnte 1944 einen von Japan vorgeschlagenen Spione-Austausch ab.
In jener Zeit des deutschen Russlandfeldzuges erhob sich auch das russische Nationalbewusstsein von einem «Grossen Vaterländischen Krieg», der sich von den Untaten und dem Versagen des Diktators Stalin abzukoppeln versuchte. Auch Altstalinist Markus Wolf folgte dieser Diktion. Die Rote Armee und ihre Millionen getöteter und gefangener Menschen wurde zum neuen Heroen, zum sowjetischen Siegermythos der UdSSR bis zu ihrem Ende emporstilisiert, und dauert noch bis heute an. 141)
Partisanen und Zivilbevölkerung im Widerstand
Gewiss war der Kampf der Roten Armee matchentscheidend im Zweiten Weltkrieg. In der Abwehr der Sowjetunion gab es eine zweite strategische Komponente: Die Partisaninnen und Partisanen und die Zivilbevölkerung, in der sie sich einbetteten. Der Schweizer Kriegsarzt Bucher beschrieb die militärische Wende vor Moskau Ende 1941 deshalb ganz ähnlich wie Zeitzeuge Markus Wolf, Ex-DDR-Stasi-General. Bucher: «Die Hoffnungsträume der Deutschen auf eine baldige Wende des Kriegsglücks schienen zu verfliegen. Die russischen Armeen stiessen vor und trieben mit den Partisanen tiefe Keile in die Linien der deutschen Front.»
In diese von den Sowjets betreuten Partisanenbewegungen gegen die Nazi-Invasoren gliederte sich auch ein mutiger jüdischer Widerstand ein. Der Website des Jüdischen Weltkongresses sind folgende Informationen zu entnehmen: Tuvia, Asael und Zus Bielski stammten aus einer Bauernfamilie in der Nähe von Nowogrodek im Vorkriegspolen. Nach dem deutschen Einmarsch in die UdSSR im Juni 1941 wurde die Familie Bielski in ein Ghetto deportiert. Die Eltern wurden von den Deutschen ermordet, so flohen die Brüder im Dezember 1941 und bildeten eine Partisanengruppe von etwa 30 Personen. Die Bielski-Gruppe wuchs in den folgenden achtzehn Monaten auf etwa 700 Mitglieder an.
Im August 1943 wurde die Gruppe gezwungen, tief im Naliboki-Wald, nordöstlich von Nowogrodek in Weissrussland ihr Lager aufzuschlagen. Tuvia war entschlossen, alle Jüdinnen und Juden aufzunehmen, die darum baten, der Gruppe beizutreten. Bei Kriegsende verfügte das Familienlager Bielski über verschiedene Gewerbebetriebe und Einrichtungen, wie etwa eine Schule, eine Bäckerei, eine Krankenstation und eine Wäscherei. Das Blockhüttendorf wurde auch «Jerusalem in den Wäldern genannt».
Während ihrer Zeit im Wald hatte die Bielski-Gruppe auch mit anderen Partisanengruppen zu kämpfen, deren Mitglieder teilweise extrem antisemitisch waren. Tuvia Bielski arrangierte sich aber mit dem Kommandeur der sowjetischen Partisanen. Im Sommer 1944 wurde Weißrussland von der Roten Armee befreit, die jüdische Partisanengruppe löste sich auf und verließ die weissrussischen Wälder. Tuvia und Zus wanderten nach dem Mandatsgebiet Palästina aus und nahmen 1948 am israelischen Unabhängigkeitskrieg teil.142)
Vernichtungsaktionen deutscher Invasoren in Mittel- und Osteuropa
In wessen Gesellschaft sich das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) als medizinische Hilfe für die Naziarmeen begeben hatte, lässt einen erschaudern. Wie es so aussah in diesem von nazifreundlichen Eidgenossen herbei gesehnten Kampf gegen den «jüdischen Bolschewismus», schildert ein Bericht im Aufklärungsdienst von «dekoder». Dieser schreibt über sich selbst: «Wir bringen russischen und belarussischen Journalismus und wissenschaftliche Kompetenz aus europäischen Universitäten auf eine gemeinsame Plattform.». Dem vom Auswärtigen Amt in Berlin mitgeförderten Informationsprojekt entnehme ich folgende Informationen aus der Studie «Der Holocaust in der Sowjetunion und den von ihr annektierten Gebieten» von Dieter Pohl.
Die deutsche Invasion in der Sowjetunion 1941/42 erfasste ein Gebiet, wo etwa 4,1 Millionen Jüdinnen und Juden lebten. 2,5 bis 2,6 Millionen Jüdinnen und Juden in den westlichen Gebieten der Sowjetunion fanden während der deutschen Besatzung den Tod. Ein Tag nach Beginn des Unternehmens Barbarossa, also am 23. Juni 1941 begannen die Nazi-Mordaktionen, zuerst in der Westukraine, dann in West-Litauen. Der deutsche Vernichtungskrieg hatte somit sofort begonnen.
Es folgte das Massaker in Kamjanez-Podilskyj in der Ukraine, wo Ende August 1941 innerhalb von zwei Tagen 23.800 jüdische Männer, Frauen und Kinder den Deutschen zum Opfer fielen. Wie schon erwähnt, massakrierten am 29. und 30. September 1941 das Sonderkommando 4a zusammen mit einem Polizeibataillon und ukrainischen Helfern 33.771 Menschen im Babyn Jar-Park. Weitere solche Mord-Aktionen folgten im Oktober in Kamjanez-Podilskyj und im Dezember in Charkiw.
Im September und Oktober 1941 wandten sich die deutschen Vernichter wieder den westlichen Gebieten der Sowjetunion zu. Dort lebten die meisten Jüdinnen und Juden noch, weil die Mordkommandos oft schnell mit den Fronttruppen weitergezogen waren. Insbesondere in jenen ehemals ostpolnischen Gebieten, die 1939 von Stalin annektiert und der Belarussischen und der Ukrainischen SSR angegliedert worden waren, setzte nun eine zweite Welle von Massakern ein. Vor allem Kinder, alte Menschen und auch Frauen wurden ermordet, weil man diese nicht als Arbeitskräfte einsetzen wollte. Auch die Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich diente als Vorwand, um die einheimischen Jüdinnen und Juden zu ermorden, so beim Rigaer Blutsonntag Ende November/Anfang Dezember 1941.
Die Mehrzahl der Massenmorde fiel ins Jahr 1942. Vor allem im ehemaligen Ostpolen wurde zwischen Mai und November ein Ghetto nach dem anderen durch Massenerschießungen vernichtet. Dazu dienten auch die beiden Vernichtungsorte Bronnaja Gora und Maly Trostenez im heutigen Belarus. Nach der zweiten deutschen Offensive, die 1942 bis nach Stalingrad führte, gerieten auch die Jüdinnen und Juden im Nordkaukasus in eine tödliche Falle.
​
Die Täterschaften und ihre Opfer
Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienstes) gehörten zur wichtigsten Tätergruppe. Zunehmend wurden auch reguläre Polizeibataillone der Ordnungspolizei eingesetzt. Als dritte Kraft aus dem SS- und Polizeiapparat traten zwei Brigaden der Waffen-SS bei den Tätern auf. Insbesondere die SS-Kavalleriebrigade, die im Raum zwischen Belarus und der Ukraine eingesetzt war, ermordete im Zuge sogenannter Partisanenbekämpfung Zehntausende jüdischer Menschen. Für die Ermordung von etwa 50.000 jüdischen Kriegsgefangenen war die Wehrmacht sogar überwiegend selbst verantwortlich.
In den besetzten sowjetischen Gebieten, sowohl weiter westlich als auch in der Russischen Föderation, waren einheimische Helfer am Holocaust beteiligt. Daneben bemühten sich die Besatzer darum, in Zusammenarbeit mit antikommunistischen Untergrundgruppen Pogrome auszulösen. Dies gelang vor allem in der Westukraine, etwa in Lemberg, Tarnopol oder Zloczow sowie in Litauen. Nicht selten stifteten einheimische antisemitische Aktivisten zu solchen Gewaltaktionen auf eigene Faust an. Insbesondere in der Westukraine und im Baltikum sahen sich die Jüdinnen und Juden zudem mit einer antisemitisch eingestellten Bevölkerungsmehrheit konfrontiert. Antikommunistische Untergrundgruppen wie die Ukrainische Aufstandsarmee waren mehrheitlich antisemitisch eingestellt und ermordeten oftmals versteckte Jüdinnen und Juden.
Schon unmittelbar nach ihrem Angriff Anfang Juli 1941 begannen rumänische Einheiten damit, Jüdinnen und Juden in Bessarabien und der nördlichen Bukowina zu ermorden, Regionen, die Stalin 1940 Rumänien abgenommen hatte. Nach der Besetzung der Großstadt Odessa im Oktober 1941 verübten sie eines der größten Massaker des Holocaust, mindestens 25.000 Jüdinnen und Juden wurden in der Hafenstadt ermordet, wahrscheinlich noch erheblich mehr. Vermutlich fallen zehn Prozent aller Morde an Jüdinnen und Juden in der besetzten Sowjetunion in die Verantwortlichkeit rumänischer Stellen.
Dieser deutsche Vernichtungskrieg richtete sich nicht nur gegen alle Jüdinnen und Juden sondern auch gegen sowjetische Kriegsgefangene, von denen mindestens 2,5 Millionen verhungerten oder erschossen wurden, Roma, Patienten psychiatrischer Anstalten, kommunistische Funktionärinnen und Funktionäre und die Bevölkerung in den Partisanengebieten, wo Hunderttausende ihr Leben bei Vergeltungsaktionen verloren. Das genaue Ausmaß dieser Mordbefehle lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren.
Sicher ist jedoch, dass im Zuge des Kampfes gegen den vorgeblichen „jüdischen Bolschewismus“ Angehörige der sowjetischen Eliten in Kommunistischer Partei und Staatsapparat, insbesondere alle Jüdinnen und Juden unter ihnen, direkt nach dem Einmarsch getötet werden sollten, ebenso wie gefangene Politoffiziere und jüdische Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee.
So weit also aus dem Bericht von «dekoder». Weitere Quellen für die Menschheitsverbrechen finden wir im Gedenkstättenportal der Stiftung Denkmal für die ermordeten Jüdinnen und Juden Europas. Es ist Teil der Ausstellung im Ort der Information unter dem Stelenfeld des Holocaustmahnmals in Berlin. 143)
Patrioten für die Befreiung
Das geschändete Mittel- und Osteuropa musste den Weg zurück für die deutschen Invasoren mühsam erkämpfen. Nachdem Hitlers Blitzkrieg Ende 1941 vor den Toren Moskaus stillgestanden war, dauerte es ein Jahr noch bis zur strategischen Wende von Stalingrad 1942/1943. Die Rote Armee drängte die Wehrmacht darauf zurück nach Berlin, bis zur totalen Niederlage des Deutschen Reiches 1945.
Anfangs jenes Jahres stand eine Treffen der drei künftigen Siegermächte, der USA, von Grossbritannien und der UdSSR in Jalta auf der Krim bevor. Es sollte am 4. Februar 1945 beginnen und sich vor allem der Nachkriegssituation in Deutschland und in Mitteleuropa widmen. Um sein Ziel, die Oder als Teil der künftigen Nachkriegsgrenzlinie Oder-Neisse zu erreichen, setzte Stalin seine beiden Heerführer Schukow und Koniew in intensiven militärischen Vorstössen nach Westen, somit alle Reserven ein.
Der Kampf ums südpolnische Krakau war für die Rote Armee sehr verlustreich. Dort erfuhr Anatoly Shapiro, ein Ukrainer und Kommandant in der 1. Ukrainischen Front von der Bevölkerung erstmals vom KZ-Lager in OÅ›wiÄ™cim (Auschwitz). Am 27. Januar 1945 war es dann so weit. Die Truppen der Roten Armee stiessen gegen Westen bis zur Ortschaft Auschwitz vor und entdeckten schliesslich auch das Lager. Gegen 15 Uhr erreichte ein Sturmtrupp unter dem Kommando von Major Schapiro als einer der ersten den KZ-Eingang. Es war seine Einheit, die die Zugänge zum Lager von den Minen befreite - danach öffnete Major Shapiro persönlich die Tore des Lagers Auschwitz-I. Obwohl er ein ukrainischer Jude war und später wegen des massiven russischen Antisemitismus in die USA emigrierte, sagte er noch 2005, kurz vor seinem Tod: „Ich habe Auschwitz nicht als Jude befreit, sondern als Kommandant der Roten Armee. Darauf bin ich stolz.“ Er war Träger mehrerer Tapferkeits- und Ehrenauszeichnungen der Roten Armee.
Nachdem sowjetische Truppen das KZ Auschwitz betreten konnten, fanden sie noch etwa 7.000 kranke und erschöpfe Häftlinge vor. Die Übrigen waren Tage zuvor von der SS auf Todesmärsche geschickt worden. Gemäss Schätzungen wurden in Auschwitz zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Menschen ermordet, darunter mehr als eine Million jüdische Frauen, Männer und Kinder. 144)
Ein Schweizer Patriot
Blicken wir zurück in unser Land, die Schweizerische Eidgenossenschaft, welche die Zeit des Zweiten Weltkrieges weniger ehrenvoll, doch mehr opportunistisch überstanden hatte. Die Kollaboration mit dem NS-Regime war eng.
Die Geschichte der Schweiz in den Dreissiger- und Vierzigerjahre vorigen Jahrhunderts gibt Anlass zur berechtigten Scham. Erwähnt sei etwa nochmals das Bemühen von Altbundessrat Musy anno 1938, zusammen mit einem SS-Mann schweizerischer Herkunft die Rote Pest im «jüdisch-bolschewistischen» Russland auszutilgen. Die Schweiz war immer ganz hautnah dran, tat aber nur sekundär mit, zum Teil verdeckt, im Falle des SRK in Absprache mit der deutschen Gestapo, aber immer Geschäfte machend. Dann die schändliche Rückweisung von Flüchtlingen im August 1942, zurück ins Verderben, in die Gaskammern der Nazis. Mit der amtlichen Reise des eidgenössischen Fremdenpolizeichefs Rothmund im Herbst 1942 nach Berlin, zur Besprechung mit SS und Gestapo und mit dem Besuch des KZs Oranienburg, wo sich dieser über die Vorzüge des schweizerischen Antisemitismus äusserte. Oder mit der medizinischen Begleitung der Täterarmee, der deutschen Wehrmacht, hinter der Front, als Mission des Roten Kreuzes getarnt, eine sogenannt humanitäre Assistenz für die Mörder, organisiert vom Schweizer Gesandten in Berlin.
Es bestünde Anlass dazu, unsere Geschichte wahrheitsgetreu aufzuarbeiten. Es gab einen ersten Versuch mit der Bergier-Kommission, der Öffentlichkeit klaren Wein einzuschenken. Das war 2002. Vor zwanzig Jahren. Und was hat sich in dieser Sache bis heute weiterentwickelt?
Von Positivem ist zu berichten. Eine Erinnerungskultur bietet sich an. Am 25. Mai 2021 stellte sich eine Steuerungsgruppe «Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus» vor. Es wurden entsprechende Motionen im Nationalrat und im Ständerat eingereicht, alle Fraktionen der Vereinigten Bundesversammlung stellten sich hinter das Projekt. Der Ball ist nun beim Bundesrat.
Wissenbildung und Tradierung des Wissens an nächste Generationen sind ein Kernziel. Dazu gehörten auch positive Stimmen und von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, welche damals mutig gegen die Kollaboration der Schweiz mit Nazideutschland ankämpften. Da muss unbedingt Rudolf Bucher genannt werden, ein Arzt und einfacher Sanitäts-Leutnant der Schweizer Armee, der im Einsatz des Schweizerischen Roten Kreuzes an der deutschen Ostfront in Russland weilte und erst ein Vierteljahrhundert danach,1967 nämlich, es wagte, seine Erlebnisse und seine vehemente Kritik an der diffusen und falschen Politik von damals zu publizieren. Er erwies sich damit als herausragender Schweizer Patriot.
Bucher schloss seine bitteren Erkenntnisse mit folgenden Feststellungen in seinem Buch «Zwischen Verrat und Menschlichkeit, Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front 1941/1942» ab:
«Die Tatsache des Verrats am Rotkreuzgedanken und an der Neutralitätsidee unseres Vaterlandes und des Vertrauensmissbrauchs einer kleinen Gruppe von Anpassern gegenüber ihren ahnungslosen Kollegen muss im grösseren Zusammenhang beleuchtet und bewertet werden, denn die Auswirkungen der damaligen Zeit sind auch heute noch spürbar und aktuell, und zwar in der Schweiz wie auch im Ausland. Spätere Generationen werden sich damit auch zu befassen haben. Darin mag die Rechtfertigung liegen, dass ich fünfundzwanzig nach dem Geschehen meine Erinnerungen der Öffentlichkeit unterbreite.» 145)
Hinweise:
https://blog.nationalmuseum.ch/2017/06/die-schweiz-nach-der-russischen-revolution/
https://www.researchgate.net/publication/318263155_Die_Schweiz_nach_der_Russischen_Revolution
132) https://www.bazonline.ch/wissen/geschichte/die-conradiaffaere/story/12463177
133) Hannah Einhaus, Für Recht und Würde, Georgs Brunschvig, Chronos, Zürich, 2016, S. 90 ff, S. 115 ff.
134) https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003938/2009-06-23
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/042138/2010-11-05/
https://www.cinemas-du-grutli.ch/films/31305-la-peste-rouge
https://www.lpb-bw.de/reichspogromnacht​
135) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/lebensraum.html
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/voelkermord/generalplan-ost.html
136) https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/hitler-stalin-pakt-1939.html
https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/203716/80-jahre-verbrechen-von-katy
137) Bundesarchiv Deutschland, Bild 101I-137-1032-14A / Kessler, Rudolf / CC-BY-SA 3.0
https://www.recensio.net/rezensionen/zeitschriften/sehepunkte/15/03/smolensk-under-the-nazis
138) https://geschichte.redcross.ch/ereignisse/ereignis/die-aerztemissionen-des-srk-an-der-ostfront.html
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=acd-002:1942:50::1787
https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Bircher
139) http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1941/september.html
https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/d2z14896
http://www.fluchschrift.net/verbrech/november/081141.htm
140) Rudolf Bucher, Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942, Huber Frauenfeld, 1967, Seiten 5, 35, 62.142, 188, 193, 254.
https://www.afz.ethz.ch/bestaende/252c53c523494ba0acbee80bf9a61686.pdf
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/006222/2011-12-22/
141) Rudolf Bucher, Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942, Huber Frauenfeld, 1967, Seiten 112 ff.
http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19400927-1.pdf
https://www.nd-aktuell.de/artikel/62413.der-meisterspion-ueber-jeden-verdacht-erhaben.html
https://www.mfs-insider.de/Abhandlungen/Sorge.htm
142) Rudolf Bucher, Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942, Huber Frauenfeld, 1967, S. 175.
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/partisanenkrieg-im-osten.html
https://www.youtube.com/watch?v=EUDmTl2SKyM
143) https://www.dekoder.org/de/gnose/holocaust-sowjetunion-zweiter-weltkrieg
http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1439
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/26/Ukraine
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/29/Belarus
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/14/Litauen
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/13/Lettland
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/20/Polen
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/19/%C3%96sterreich
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/28/Ungarn
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/21/Rum%C3%A4nien
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/33/Republik-Moldau
https://www.memorialmuseums.org/laender/view/22/Russische-F%C3%B6deration
https://www.memorialmuseums.org/pages/home
144) http://www.holocaust-chronologie.de/chronologie/1945/januar.html
https://archive.ph/20130418034554/http://old.win.ru/en/Mysteries-of-History/3335.phtm
145) Rudolf Bucher, Zwischen Verrat und Menschlichkeit. Erlebnisse eines Schweizer Arztes an der deutsch-russischen Front, 1941–1942, Huber Frauenfeld, 1967, S. 260.
© Paul Ignaz Vogel, 11.03.2022